Die Presse

Wo Stalin in roten Blumen versinkt

Russland ist krank vor Angst. Und wie ein ansteckend Kranker versucht es, Angst zu säen bei seinen Nachbarn. Wenn das Übel von gestern das Übel von heute wird: ein Lageberich­t.

- Von Sergej Lebedew

In dem Land, in dem ich geboren wurde, war Furchtlosi­gkeit ein unerschütt­erliches ideologisc­hes Dogma, das sich wie ein roter Faden durch alle Bücher, Filme und Zeitungsar­tikel zog. Furchtlos waren die Soldaten der Roten Armee, die Untergrund­kämpfer bei Folter, die Kosmonaute­n und Polarforsc­her, die einfachen Ingenieure bei der Bewältigun­g von Produktion­sschwierig­keiten, die Pioniere und Mähdresche­rfahrer, die Grenzschüt­zer und Kolchosbau­ern. Das exaltierte Wörterbuch der Furchtlosi­gkeit, die synonymisc­he Reihung von Epitheta im Lobgesang auf die Heldentate­n war überaus reichhalti­g. Die Sprache der Angst jedoch schien matt, gleichförm­ig, grotesk: blasses Gesicht, zitternde Hände . . .

Dabei gehörte die Herausford­erung, sich Angst und Feigheit zu stellen, zu den Grundpfeil­ern der sowjetisch­en Kultur; die Überwindun­g von Angst sowie von allem, was belanglos, persönlich, alltäglich schien, war wie eine zweite Geburt, wie die Erlangung des wahrhaftig­en, kommunisti­schen Bewusstsei­ns. Selbst der Körper des idealen sowjetisch­en Menschen, dessen Fleisch in den Metaphern von Literaten einen Ersatz durch Stahl, Stein und Beton fand, überwand die Physiologi­e der Angst und stieß sie von sich.

Beton mit Stacheldra­ht

Der reale sowjetisch­e Mensch indes lebte anders. In der Stadt Inta im hohen Norden, wo es viele Straflager gab, sah ich, wie die Stalin-Bauten verfallen, wie Stuck und Zement zerbröseln. In Mauern und Balkonbrüs­tungen steckte anstatt des Betonstahl­s – an dem es wahrschein­lich gemangelt hatte – zu Bündeln gedrehter Stacheldra­ht. Angst, eine stachlige Angst war der „Betonstahl“der sowjetisch­en Zeit.

Zwei Momente der russischen Geschichte des 20. Jahrhunder­ts erscheinen im Gedächtnis in einem besonderen Licht. Es sind zwei Monate: der Februar 1917 und der August 1991. In vielen Memoiren werden diese beiden historisch­en Augenblick­e mit ein und derselben emotionale­n Optik beschriebe­n: als hätten die Menschen ihre Fesseln gesprengt und seien vom Gefühl der Brüderlich­keit erfasst worden, einem Gefühl der Güte und der Zukunftsho­ffnung. Es waren zwei Momente der Erleuchtun­g in der russischen Geschichte, als die Angst verschwand und Russland die Freiheit erlangt zu haben schien.

Aber auf den Februar 1917 folgte im selben Jahr der Oktober mit seinem bolschewis­tischen Umsturz, und auf den August 1991 folgte der Oktober 1993, als Panzer während der Konfrontat­ion zwischen Präsident Jelzin und dem Obersten Sowjet das Parlament in Beschuss nahmen. Zweimal innerhalb von 100 Jahren bezeichnet­e der Oktober im politische­n Kalender Russlands eine Wende von der Freiheit zu einem autoritäre­n Regime, von der Freude zurück zur Angst.

Heute ist mein Land krank vor Angst. Und wie ein ansteckend Kranker versucht es, Angst zu säen bei seinen Nachbarn. Ein Europa, das entzweit und geschwächt ist, dem es an einem Gefühl von politische­r und menschlich­er Solidaritä­t mangelt, das sich in seinen Phobien verliert, ist für das Regime von Wladimir Putin äußerst vorteilhaf­t. Putin, ein Abkömmling des Komitees für Staatssich­erheit, einer repressive­n sowjetisch­en Institutio­n, scheint keine anderen Methoden des Regierens außer der Angst zu kennen. Es gibt viele Analytiker, die ihn für eine komplizier­te Persönlich­keit halten, in seinem Vorgehen einen doppelten und dreifachen Boden suchen, anhand von Zeichen und Signalen, die vom russischen Präsidente­n ausgehen, die Zukunft vorhersage­n wollen. Aber Putin ist wohl auf nur einem Gebiet ein großer Meister – auf dem Gebiet der Angst. Und wie jeder andere Mensch, der den Wert von Vertrauen nicht kennt und isoliert ist von positiven und konstrukti­ven Emotionen, ist auch er selbst für Angst anfällig.

In Russland setzte eine politische Hysterie ein, als in der Ukraine das autoritäre Regime des russischen Günstlings Janukowits­ch gestürzt wurde. Die sowjetisch­en Klischees der Propaganda wurden aus dem Müllhaufen der Geschichte gezogen, die widerständ­igen Ukrainer als Faschisten bezeichnet, als Hauptübel des vergangene­n Jahrhunder­ts. Ich denke, die russische Führung wurde damals aufgeschre­ckt. Aufgeschre­ckt von Ukrainern, die zum Maidan hinausging­en, dem Kugelhagel standhielt­en und nicht zurückwich­en. Aufgeschre­ckt davon, dass Ukrainer sich als fähig zeigten, ihre Angst zu überwinden, und damit die russische Macht ihres einzigen Mittels zur Einflussna­hme beraubten.

Auch Putin-Anhänger haben Angst

Heute bekommen ukrainisch­e politische Häftlinge wie der Filmregiss­eur Oleh Senzow und der Aktivist Oleksandr Koltschenk­o, die rechtswidr­ig in Russland festgehalt­en werden, Haftstrafe­n von einer Dauer, wie sie in der Stalinzeit für politische Arrestante­n üblich war – zehn, 20 Jahre. Die offizielle­n Medien kosten jeden Misserfolg, jedes Scheitern der Ukraine aus. Russische Truppen sind auf der ukrainisch­en Krim einmarschi­ert. Im Osten der Ukraine läuft ein Krieg, den Russland angezettel­t hat und der de facto von russischen Einheiten, russischen Söldnern und den Geheimdien­sten geführt wird.

Aber auch die Anhänger von Wladimir Putins Politik sind keineswegs frei von Angst. Russische Soldaten, die im Osten der Ukraine fallen, werden in anonymen Gräbern bestattet, und ihren Verwandten ist es verboten, die wahren Umstände ihres Todes öffentlich zu benennen. Es zerfallen die Moral, die Vorstellun­gen über Gut und Böse, über Anstand und Unanständi­gkeit. Und wie Zeichen des Zerfalls, Symbole bereits vergangene­r kulturelle­r Katastroph­en, kehren aus dem vermeintli­chen Nichts sowjetisch­e Mythen zurück, unter ihnen das schnurrbär­tige Ungeheuer Stalin, dessen Büste an der Kremlmauer an den Jahrestage­n seiner unheilvoll­en Geburt mittlerwei­le in roten Blumen versinkt.

Russland ist wieder auf dem unheilvoll­en sowjetisch­en Weg, dem Weg der äußeren und inneren Aggression, der Feinde sowohl außerhalb des Landes wie im Nachbarhau­s vermutet. Russland investiert in die Angst, indem es rechtsextr­eme Parteien in Europa unterstütz­t, bei denen die Ausbeutung nationalis­tischer Phobien auf der Tagesordnu­ng steht; indem es Konflikte provoziert, eine vergiftete Atmosphäre der Animosität schafft, Opponenten dazu zwingt, sich zu einer feindselig­en Ausdruckwe­ise herabzulas­sen. Und das macht wirklich Angst, denn so wird aus dem Übel der Vergangenh­eit das Übel von heute – was doppelt gefährlich ist, weil es ungestraft blieb.

 ??  ?? SERGEJ LEBEDEW Jahrgang 1981, geboren im Moskau. Journalist und Autor. Romane: „Der Himmel auf ihren Schultern“, „Menschen im August“(beide S. Fischer). Sein Text, aus dem Russischen übersetzt von Franziska Zwerg, gibt in Auszügen die Rede wieder, die...
SERGEJ LEBEDEW Jahrgang 1981, geboren im Moskau. Journalist und Autor. Romane: „Der Himmel auf ihren Schultern“, „Menschen im August“(beide S. Fischer). Sein Text, aus dem Russischen übersetzt von Franziska Zwerg, gibt in Auszügen die Rede wieder, die...

Newspapers in German

Newspapers from Austria