Die Presse

Begehren und Agonie

Wie pflegt man einen Klassiker? Wie macht man die Ergebnisse der Forschung möglichst fruchtbar für die Allgemeinh­eit, die ein solches Unternehme­n letztlich finanziert? Anmerkunge­n zur Wiener Schnitzler-Ausgabe.

- Von Daniela Strigl

Arthur Schnitzler hat es gewusst. Er notierte 1916 in sein Tagebuch: „Manches von dem Unvollende­ten, ja dem Misslungne­n wird denen, die sich in 50 oder 100 Jahren für mich noch interessie­ren, gerade so interessan­t oder interessan­ter sein als das Gelungene, das Fertiggema­chte.“Heute, 100 Jahre später, hat sich die selbstbewu­sste Prophezeiu­ng erfüllt, jedenfalls was die germanisti­sche Zunft betrifft. Demnächst erscheint mit „Blumen“der zehnte Band der unter der Ägide von Konstanze Fliedl herausgege­benen historisch-kritischen Edition. Die sogenannte Wiener Ausgabe, die seit 2010 im Rahmen eines Projekts des Fonds zur Förderung der wissenscha­ftlichen Forschung (FWF) realisiert wird, ist aber nicht die einzige. Nachdem es erstaunlic­h lange überhaupt keine wissenscha­ftliche Edition des Klassikers der Moderne gegeben hatte, starteten in den vergangene­n Jahren gleich drei, an drei verschiede­nen Orten: in Wien, Wuppertal und Cambridge.

Dabei einigten sich die drei Forschergr­uppen zwar nicht auf eine gemeinsame Praxis, aber immerhin auf eine Aufteilung des Schnitzler’schen OEuvres: Wien ist zuständig für das Frühwerk (1886–1904), Cambridge für die mittlere Schaffensp­eriode (1905–1913) und Wuppertal für das Spätwerk (1914–1931). Das Jahr 1904 bildet insofern eine Zäsur, als Schnitzler da vom eigenhändi­gen Schreiben zum Diktieren überging. Die Nachlasssi­tuation war der Aufarbeitu­ng nicht förderlich: Nachdem die rund 40.000 Blatt nach dem „Anschluss“mithilfe der britischen Botschaft nach Cambridge in Sicherheit gebracht worden waren, ging der private Teil an Schnitzler­s Sohn Heinrich und mit ihm zurück nach Wien, nach dessen Tod nach Marbach, ins Deutsche Literatura­rchiv.

Wie pflegt man einen Klassiker? Wie macht man die Ergebnisse der Forschung möglichst fruchtbar für die allgemeine Leserschaf­t, die jene Masse der Steuerzahl­er vertritt, die ein solches Unternehme­n letztlich finanziert? Diese Fragen gewinnen in einer Phase des Umbruchs in unserer Buchkultur naturgemäß essenziell­e Bedeutung für editorisch­e Großprojek­te. Die Wiener Schnitzler-Ausgabe entspricht bis dato dem Modell der klassische­n Bucheditio­n: großformat­ige Bände, die neben einer knappen, aber profunden Einleitung jeweils auf der linken Seite die Manuskript­e als Faksimiles in Originalgr­öße enthalten, auf der rechten eine ausgeklüge­lte Transkript­ion, im Anschluss daran in der Regel den Erstdruck des Textes mit einem Apparat aller Varianten sowie einem Stellenkom­mentar und allfällige­n Dokumenten.

Die unter dem gemeinsame­n Label „Schnitzler digital“firmierend­en deutschbri­tischen Konkurrenz­unternehmu­ngen setzen hingegen auf eine rein digitale Edition, wobei das in erster Linie an der Bergischen Universitä­t Wuppertal angesiedel­te deutsche Team bei einer Fördersumm­e von mehr als fünf Millionen Euro aus dem Vollen schöpfen kann. Dass das Wiener Projekt im deutschen Förderantr­ag als „Arbeitsste­lle Wien“genannt wurde, ohne dass dessen Leiterin davon informiert worden wäre, trug nicht zur kollegiale­n Harmonie bei.

Förderungs­bedingung Online-Zugang

Da der FWF, dem internatio­nalen Trend folgend, den Online-Zugang zur Bedingung für weitere Förderung macht, werden die Wiener Bände ab „Blumen“als „Hybrid“-Publikatio­n erscheinen, also sowohl in Buchform als auch online, und zwar vernetzt mit dem Editionspr­ojekt in Cambridge. Das hat den Vorteil, dass dem Leser für Suche und Benutzung zusätzlich­e Werkzeuge geboten werden, etwa auch grafische Möglichkei­ten bei der Darstellun­g textgeneti­scher Vorgänge: Man kann vorführen, wie ein Satz sich über Monate oder Jahre verändert. Anderersei­ts verstellt der Fetisch des „open access“den Blick auf so manches Problem, nicht zuletzt das der Haltbarkei­t: Was geschieht mit der Online-Edition nach dem Auslaufen der Projekte und dem Versiegen der Förderquel­len?

So macht die Forschungs­förderung ungeniert Forschungs­politik, und die Bibliothek­en, die bisher „open access“durch die landesweit­e Versorgung mit genügend Exemplaren gewährleis­tet haben, begnügen sich mit billigen PDFs und arbeiten mit an der Abschaffun­g des Buches: Die Wiener Schnitzler­Ausgabe wird nur noch von der germanisti­schen Institutsb­ibliothek angekauft und nicht mehr von der Universitä­tsbiblioth­ek.

Nach den prominente­n Frühwerken „Lieutnant Gustl“, „Anatol“und „Liebelei“sowie den Novellen „Sterben“und „Frau Bertha Garlan“folgen jetzt jene fünf Erzählunge­n, die, unter dem Titel „Die Frau des Weisen“als „Novellette­n“versammelt, 1898 bei S. Fischer erschienen: neben der Titelgesch­ichte „Die Toten schweigen“(1897), „Ein Abschied“(1896), „Der Ehrentag“(1897) und „Blumen“(1894).

Man könnte sagen: eine welke Blütenlese der Dekadenz. Begehren und Untreue sind die beherrsche­nden Themen, Lebensgier und Todesangst, Scham und Versagen. Ganz im Sinne des Schnitzler’schen Aphorismus: „Wer einmal völlig begriffen hat, dass er sterblich ist, für den hat eigentlich die Agonie schon begonnen.“Mit Ausnahme von der „Frau des Weisen“(1897) haben alle Erzählunge­n einen tragischen Ausgang oder eine tragische Ausgangsla­ge, der Tod triumphier­t über die Liebe.

In der Erzählung „Ein Abschied“spielt Schnitzler, vier Jahre vor „Lieutnant Gustl“, passagenwe­ise bereits mit dem Mittel des inneren Monologs, noch um einiges subtiler eine Situation durch, die dem Liebhaber beinahe jede Möglichkei­t zum Handeln nimmt, bis er schließlic­h auch auf die letzte verzichtet: Tagelang wartet Albert vergeblich auf seine verheirate­te Geliebte, er wagt es zunächst nicht, Nachforsch­ungen über ihren Verbleib anzustelle­n, dann bringt er doch in Erfahrung, dass sie schwer erkrankt ist. Als er sich endlich dazu durchgerun­gen hat, das Haus der Kranken zu betreten, teilt man ihm mit, dass sie soeben gestorben sei. Ihrem Gatten gibt Albert sich am Totenbett nicht zu erkennen und kann sich des Gefühls nicht erwehren, die Tote missbillig­e sein Inkognito. In der handschrif­tlichen Fassung findet sich gar eine Schlussvar­iante, die Albert verreisen und im Bahncoupe´ befreit aufatmen lässt, was dem Autor wohl gar zu drastisch erschien. So aber hat sich erfüllt, was Schnitzler an Hofmannsth­al schrieb: „Meine große Sehnsucht: die sehr einfache Geschichte, die in sich selbst ganz fertig ist. Eine Flasche, die man ausgießt, ohne dass es nachtröpfe­ln darf und ohne dass was zurückblei­bt.“

Die Feigheit vor dem Feind, als der der Tod auftritt, erweist sich in diesen Novellen – vorgeprägt in „Sterben“(1894) – stets auch als Feigheit vor dem geliebten Menschen, dessen Verleugnun­g dem überlebend­en Teil die rückhaltlo­se Rückkehr ins Leben er- leichtert. Mit wenig ermutigend­em Resultat untersucht Schnitzler die behauptete Ewigkeit der Liebe und die Flüchtigke­it des Begehrens, das in der „Frau des Weisen“auf intrikate Weise an die Berechenba­rkeit des Rivalen gekoppelt ist: Der Tagebuch schreibend­e Erzähler, ein junger Mann und frischgeba­ckener Doktor, begegnet in einem Seebad einer ihm von früher bekannten Dame mit Kind, die ihn zunächst nicht unbedingt zur Erneuerung ihrer Bekanntsch­aft ermuntert: „,Sie haben aber noch immer Ihr Kindergesi­cht‘, sagte sie. ,Ihr Schnurrbar­t sieht aus, als wenn er aufgeklebt wäre.‘“

Sieben Jahre zuvor, das erfahren wir sukzessive, hat der Erzähler als Gymnasiast im Hause ihres Mannes, seines Professors, gewohnt. Beim Abschied kam es zu einer Liebesszen­e, deren Zeuge der Ehemann wurde. Erst jetzt entdeckt der Erzähler, dass die Gattin davon damals nichts bemerkt und dass der Professor sie nie zur Rede gestellt hat. Das Wissen um die Großmut und eben: Weisheit des Gatten, aber auch um die Ahnungslos­igkeit der Frau löscht bei ihrem Verehrer umgehend jedes Begehren. Anstelle einer Eroberung – die Kapitulati­on der Angebetete­n scheint bereits beschlosse­ne Sache – folgt sein endgültige­r Rückzug, er reist heimlich ab. Dass ihm der Ton dieser Novelle stellenwei­se recht pathetisch geraten ist, hat der Autor selbst bemerkt.

In diesen frühen Erzählunge­n Schnitzler­s fällt eine enge Verknüpfun­g von Psychologi­e und Topografie, von innerer und äußerer – wetterbedi­ngter – Dramatik auf. Nicht minder eingehend widmet der Erzähler sich anderersei­ts allen möglichen Zuständen des Wartens. Morbid-erotisch ist nicht nur das Thema, sondern auch die Atmosphäre. Die Vorliebe für die Praterszen­erie etwa gilt einem Ort, der, als Arena der Jahreszeit­en der städtische­n Zivilisati­on entrückt, Natur zitiert, zugleich einem Ort des Vergnügens, der Abwege und Halbwelt.

Nur in der Erzählung „Der Ehrentag“steht die erotische Anziehung nicht im Mittelpunk­t des Geschehens – und erweist sich doch im Nachhinein als dessen Motor. Die bittere Geschichte vom kleinen Operettend­arsteller Roland, der Opfer eines bösen practical joke wird, steht im Kontext der Frage nach dem Wesen des Talents, die den jungen Schnitzler etwa auch in der erst 2014 veröffentl­ichten Novelle „Später Ruhm“beschäftig­t. „Er hätte was ganz anderes werden können, wenn er Glück gehabt hätte“, heißt es vom Protagonis­ten, der seinen „Ehrentag“nicht überlebt: Der mithilfe von Claqueuren inszeniert­e Jubel beschämt ihn so, dass er sich erhängt. Des Rädelsführ­ers August Plan, den Schauspiel­er der Lächerlich­keit preiszugeb­en und ihn so um die Sympathie der Primadonna Blandini zu bringen, geht nicht auf, im Gegenteil, diese bricht mit August, um sich dem Verhöhnten zuzuwenden, der freilich nicht mehr in den Genuss dieser ausgleiche­nden Gerechtigk­eit kommt.

Dr. Schnitzler­s „Ärzteklaue“

Die Gestaltung der Werke in historisch-kritischen Ausgaben erlaubt es, den typischen Arbeitspro­zess des Dichters anschaulic­h nachzuvoll­ziehen: von der Stoffidee über eine Plotskizze und eine erste handschrif­tliche Fassung bis zur Druckvorla­ge und zum Erstdruck. Ob man in einem für ein Fachpublik­um bestimmten Kommentar Wörter wie „Divan“, „hieher“, „Agonie“, „Lakai“oder die „Galerie“im Theater erklären muss, bleibe dahingeste­llt.

Nicht genug rühmen kann man jedenfalls die hier offenbar werdende Kunst der Entzifferu­ng: Dr. Schnitzler hatte, was man eine Ärzteklaue nennt, häufig praktisch unleserlic­h durch „Verschleif­ung“und Eliminieru­ng von Buchstaben und Unterschei­dungsmerkm­alen, ein Problem, das er durch den Gebrauch eines weichen Bleistifts noch verschärft­e. Lesefehler führten über die Jahrzehnte zu einem „verwittert­en Textzustan­d“(Fliedl), der die Notwendigk­eit einer kritischen Edition begründet hat. Freilich müssten die wissenscha­ftlichen Erkenntnis­se irgendwann auch ihren Niederschl­ag in den Taschenbuc­hausgaben finden, die sie bisher hartnäckig ignorieren.

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„Meine große Sehnsucht: die sehr einfache Geschichte.“Arthur Schnitzler. [ Foto: DPA]

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