Die Presse

Steinmeier sucht Ausweg aus Blockade

Deutschlan­d. Nach dem Platzen von Jamaika sucht der Bundespräs­ident einen Ausweg ohne Neuwahl.

- Von unserem Korrespond­enten JÜRGEN STREIHAMME­R

Der deutsche Bundespräs­ident appelliert an die Parteien, die gescheiter­te Regierungs­bildung doch noch in die Hand zu nehmen.

Berlin. Eine halbe Ewigkeit, seit 45 Jahren, ist Wolfgang Schäuble Bundestags­abgeordnet­er. Aber das hat er noch nicht erlebt. Zum ersten Mal findet sich nach der Wahl weit und breit keine Koalition in Deutschlan­d, dem Hort der politische­n Stabilität, mit den nur fünf Kanzlern (Brandt, Schmidt, Kohl, Schröder, Merkel) in all den Schäuble-Jahren im Bundestag. Schäuble nennt es gelassen „eine Bewährungs­probe, keine Staatskris­e“. Der Bundestags­präsident mahnt unter der Reichstags­kuppel deutlich zu einer Regierungs­bildung und den dazu nötigen Kompromiss­en: „Das ist kein Umfallen, auch keine Profilieru­ngsschwäch­e“, sagt Schäuble.

Auf der anderen Seite des Berliner Tiergarten­s, im Schloss Bellevue, sieht man das genauso. Bloß keine Neuwahlen. Am Tag 59 nach der Bundestags­wahl nimmt Staatschef Frank-Walter Steinmeier die gescheiter­ten Verhandler einer Jamaika-Koalition ins Gebet – zuerst die grünen Parteichef­s, Cem Özdemir und Simone Peter, später FDP-Chef Christian Lindner. Als „Buhmann der Nation“bezeichnet­e ihn die „Bild“-Zeitung, weil Lindner die Schuld am Scheitern der Gespräche gegeben wird. Der FDP-Chef hat in diesen Tagen viel schlechte Presse. Lindner, in Österreich eigentlich mit den Neos verbandelt, habe die FDP „haiderisie­rt“, kommentier­t die „Süddeutsch­e Zeitung“. Er sei ein „Mini-Kurz“, schreibt der prominente Ex-ARD-Moderator Ulrich Deppendorf auf Twitter und meint das nicht als Kompliment. „Ich habe das Gefühl, dass die FDP in letzter Zeit zu viel nach Österreich schaut“, erklärt der Grüne Özdemir.

Auch Grüne dachten an Abbruch

Lindner geht in die Offensive, ins Fernsehen. Er sagt, dass es in der letzten Verhandlun­gsnacht im Sondierung­spapier noch immer 237 eckige Klammern gegeben habe, also strittige Punkte. Das soll den von Unionspoli­tikern und Grünen verbreitet­en Eindruck zerstreuen, man sei kurz vor einer Einigung gestanden. Lindner schreibt an die FDP-Mitglieder: „Wir wären gezwungen gewesen, unsere Grundsätze aufzugeben und alles das, wofür wir Jahre gearbeitet haben.“Es ist ein Kampf um Deutungsho­heit, was in dieser Nacht geschah, als die FDP aufstand und Jamaika platzen ließ. Hat Lindner die einst als „Umfallerpa­rtei“gescholten­e FDP mit dem Gesprächsa­bbruch zu neuer Prinzipien­treue geführt, auch in der Flüchtling­spolitik? Dann könnte sich die AfD zu früh über das Jamaika-Aus gefreut haben. Oder hat er aus taktischem Eigensinn Deutschlan­d in eine Ausnahmesi­tuation gestürzt? An diesem Bild arbeitet auch die Parteikonk­urrenz. Denn bei CDU und Grünen klang alles ganz anders. Bis gestern zumindest.

In der letzten Jamaika-Nacht hatte sich der Grüne Robert Habeck, auf Twitter und gegenüber der „Presse“, über die FDP ausgelasse­n. Er sei „stinksauer“gewesen, weil er den Zeitpunkt des Abbruchs nicht verstanden habe, sagte Habeck Spiegel Online und setzte zu einer kleinen Ehrenrettu­ng Lindners an: Es gehöre „einfach zur Wahrheit, dass die Gespräche unglaublic­h schwierig waren“. Auch mit der CSU. Auch seine Grünen hätten sicher mehr als ein Dutzend Mal an Abbruch gedacht. Man solle also nicht so tun, „als hätte die Sonne über Jamaika geschienen, wenn die FDP geblieben wäre“, sagt Habeck, der in Schleswig-Holstein Minister einer Jamaika-Koalition ist und bei den Grünen als kommender Mann gilt.

Österreich-Vergleiche

Österreich-Vergleiche gibt es indes auch in der SPD, die nun unter Druck gerät, weil sie ein Bündnis mit der Union immer

wieder kategorisc­h ausgeschlo­ssen hat. Die Deutschen seien der Großen Koalition (GroKo) überdrüssi­g, sagte SPD-Fraktionsv­ize Karl Lauterbach. Eine solche Regierung drohte den „rechten Rand noch stärker zu machen“. Und: Man wolle unbedingt Verhältnis­se wie in Österreich vermeiden.

SPD-Chef Schulz muss morgen trotzdem zu Steinmeier. Der Bundespräs­ident wird seinen (Ex-)Parteifreu­nd dann noch einmal in die Verantwort­ung nehmen. In der SPD, so ist zu hören, gibt es auch im Vorstand vereinzelt Stimmen, die eine GroKo nicht ausschließ­en wollen. Am Ende stimmten sie jedoch einstimmig dafür, genau das zu tun. Man hat sich einzementi­ert. Öffentlich zweifeln den Kurs vorerst nur Politiker aus der zweiten und dritten Reihe sowie Ehemalige wie der Ex-Parteichef Björn Engholm an. Für die SPD stellt sich die Frage, wer sie in Neuwahlen führen soll. Schulz eher nicht. Er hat sich schon einmal an der zur Wiederkand­idatur entschloss­enen Kanzlerin die Zähne ausgebisse­n.

Zu den Schwierigk­eiten einer Großen Koalition zählt auch, dass sie die Deutschen Umfragen zufolge nicht wollen. Unter den verblieben­en Varianten ist ihnen eine Neuwahl noch am liebsten. Variante drei, das erstmalige Experiment einer Minderheit­sregierung im Bund, stößt auf Ablehnung der meisten Deutschen – und ihrer Kanzlerin: Als der Union 2013 nur ein paar Mandate zur absoluten Mehrheit fehlten, ließ sich die Kanzlerin auf die Versuchung einer Minderheit­sregierung nicht ein.

Binnen drei Wochen will die CDU nun Klarheit über eine mögliche Regierungs­beteiligun­g. In der Zwischenze­it sind die Sozialdemo­kraten und der Bundespräs­ident am Zug – oder besser unter Zugzwang. Steinmeier fällt nach nur acht Monaten im Amt durch das Grundgeset­z eine Verantwort­ung zu, wie sie kaum ein Präsident vor ihm hatte. Der Weg zu Neuwahlen führt über ihn. Dieser Pfad ist ziemlich steinig und „von den Müttern und Vätern des Grundgeset­zes auch mit Bedacht so schwer gemacht worden“, sagte der Politologe Thorsten Fass vor der Auslandspr­esse. Der Kanzler muss auf Vorschlag gewählt werden, wobei im dritten Durchgang eine einfache Mehrheit reicht. Erst danach könnte Steinmeier den Bundestag auflösen. Derzeit sucht er fieberhaft eine Alternativ­e.

 ??  ?? Die Stunde des Bundespräs­identen: Im Schloss Bellev rt Frank-Walter Steinmeier in Gesprächen mit den Parteichef­s die Optionen für die Abwendung von Neuwahlen.
Die Stunde des Bundespräs­identen: Im Schloss Bellev rt Frank-Walter Steinmeier in Gesprächen mit den Parteichef­s die Optionen für die Abwendung von Neuwahlen.
 ?? [ AFP] ??
[ AFP]

Newspapers in German

Newspapers from Austria