„In der Türkei muss man heute die Unschuld beweisen“
Interview. Ruhat Ak¸sener von Amnesty International Türkei über „unsinnige Vorwürfe“und Kampagnen in regierungsnahen Medien.
Die Presse: Im Juli hat die türkische Polizei auf einer der Prinzeninseln eine Veranstaltung von Menschenrechtlern gestürmt und zehn Personen wegen Terrorpropaganda festgenommen, darunter zwei Ausländer. Es heißt, dass der Dolmetscher die Polizei gerufen hat. Haben Sie das verifizieren können? Ruhat Sena Aksener:¸ Wir wissen nicht mit Sicherheit, wer dieser sogenannte geheime Zeuge war. Dass es der Übersetzer war, ist eine Vermutung. Für die Veranstaltung hat man zwei Dolmetscher gebucht, man hat sie nicht gekannt. Jedenfalls stürmte die Inselpolizei später das Hotel und fragte als erstes: „Wer ist Peter?“(Peter Steudtner, deutscher Menschenrechtler, Anm.). Sie haben alle Unterlagen, Handys, Laptops mitgenommen. Die Teilnehmer kamen zuerst auf die kleine Inselwache, wir konnten sie erst nach 28 Stunden erreichen. Sie durften zunächst keinen Kontakt nach draußen haben. Später wurden sie in verschiedene Gefängnisse verteilt. Zu dem Zeitpunkt haben wir immer noch geglaubt, dass es sich um ein bizarres Versehen handeln muss.
Einige Tage später hieß es, es seien Beweise für eine Verschwörung gefunden worden. Skizzen zum Beispiel... Das haben wir in regierungsnahen Medien gelesen, die Ermittler selbst gaben den Anwälten keine Informationen. Diese angeblichen Beweisstücke waren eine Landkarte von Ali Gharavi über die verschiedenen Sprachen im Nahen Osten (der IT-Berater Gharavi ist schwedischer Staatsbürger, Anm.). Peter Steudtner gab in seinem Workshop zum Thema Stressbewältigung folgende Aufgabe: Die Teilnehmer sollten zeichnen, was sie an der heutigen Türkei stört. Eine hat zum Beispiel die Putschnacht gezeichnet, eine andere Grabsteine auf das Mittelmeer, um die Flüchtlingskrise zu illustrieren. Den Medien zufolge sollten die Zeichnungen „beweisen“, dass mit der Türkei etwas geplant werde. Vor Gericht waren diese „Beweise“aber kein Thema mehr.
In den Medien war auch zu lesen, dass Peter Steudtner ein deutscher Agent sei. Zwei Wochen lang konnte man von all diesen unsinnigen Vorwürfen lesen, dann war es plötzlich vorbei. Wir gehen jedenfalls gerichtlich gegen diese absurden Behauptungen vor, die Frage ist nur, ob wir Erfolg damit haben werden. Bei Peter kam noch eine Sache dazu: Die Beziehungen zwischen Deutschland und der Türkei waren sehr schlecht, das haben die Medien ausgenutzt. Aber vor Gericht gab es den Agenten-Vorwurf gegen Peter nicht.
Die Amnesty-Direktorin Idil Eser hatte besonders schwierige Haftbedingungen. Idil hat zweieinhalb Monate lang nur einmal die Woche für eine Stunde ihre Anwältin sehen dürfen. Sie lebt alleine, hat keine Eltern mehr und auch keine Verwandten ersten Grades. Mit dem geltenden Ausnahmezustand haben nur enge Verwandte und Anwälte Besuchserlaubnis.
Amnesty-Vorstandsmitglied Taner Kılıc¸ wurde vor Idil Eser und den anderen verhaftet und befindet sich, im Gegensatz zu der Insel-Gruppe, noch immer in Haft. Seine nächste Anhörung ist am Mittwoch. Sie sagen, die Vorwürfe gegen ihn sind nicht haltbar? Taner Kılıc¸ soll ByLock verwendet haben (eine Messenger-App, die laut Regierung die Anhänger des Predigers Fethullah Gülen verwenden, Anm.). Wegen ByLock herrscht in der Türkei eine große Unsicherheit. Es gibt keinen Bericht, der zeigt, wie man die Verwendung von ByLock technisch nachvollziehen kann. Nach Taners Verhaftung haben wir sein Telefon bekommen und von einer Person, dessen Arbeit vom Justizministerium anerkannt wird, untersuchen lassen. Und zusätzlich von einer Londoner Firma. Das Ergebnis: Er hat ByLock nicht verwendet. Die Gutachten haben wir der Justiz übergeben. In der Türkei ist es heute so, dass wir unsere Unschuld beweisen müssen, anstatt dass die Justiz unsere Schuld beweist.
Amnesty International arbeitet in vielen Ländern unter schwierigen Bedingungen. Würden Sie sagen, dass die Situation in der Türkei besonders prekär ist? In unserer knapp 60-jährigen Geschichte ist es noch nie passiert, dass ein Mitbegründer und ein Direktor gleichzeitig in Haft waren. Der Ausnahmezustand erschwert unsere Arbeit. Aber: Menschenrechtler hatten es in der Türkei nie einfach, viele sind umgebracht worden, zuletzt der Anwalt Tahir Elci,¸ mitten auf der Straße vor zwei Jahren. In seinem Prozess gibt es bis heute keine Fortschritte.