Die Presse

„Jeden Tag roch man den Tod“

Reportage. Heute, Mittwoch, könnte der bosnisch-serbische General Ratko Mladi´c wegen Genozids verurteilt werden. In Srebrenica löst der Prozess vor dem UN-Tribunal gemischte Gefühle aus.

- Von unserem Korrespond­enten THOMAS ROSER

Srebrenica. Auf ihre Krücken gestützt blickt Suhra Malic´ vor ihrem Haus im ostbosnisc­hen Weiler Donji Potocariˇ auf die einstige Batteriefa­brik. Mehr als 22 Jahre liegt der heiße Sommertag zurück, an dem sich das Schicksal Tausender Familien auf dem zum Militärhan­gar umfunktion­ierten Fabrikgelä­nde im Norden der Muslimenkl­ave Srebrenica eine unfassbare Wende nahm. „Die Haut schmerzt, die Seele leidet“, sagt seufzend die 82-jährige Frau mit dem geblümten Kopftuch: „Nichts und niemand kann mir meine Söhne zurückbrin­gen.“

Der blutige Bosnienkri­eg (1992-1995) neigte sich seinem Ende zu, als die bosnisch-serbische Armee (VRS) unter Führung von General Ratko Mladic´ nach zweijährig­er Belagerung am 11. Juli 1995 in die ostbosnisc­he Muslim-Enklave Srebrenica einmarschi­erte. Auf nennenswer­ten Widerstand der 400 niederländ­ischen Blauhelme, die in der zur UNOSchutzz­one erklärten Enklave stationier­t waren, stießen die bosnisch-serbischen Eroberer damals nicht: In Panik versuchten 20.000 bis 25.000 muslimisch­e Bosniaken auf das Gelände der UN-Truppe in dem im Norden der Enklave gelegenen Dorf Potocariˇ zu gelangen.

Die drei Häuser ihrer Familie und die umliegende­n Wiesen seien voll von Menschen gewesen, erinnert sich Suhra an den Tag, an dem sie ihre beiden ältesten Söhne Fuad und Suad zum letzten Mal sah: „Die Leute hatten furchtbare Angst. Auf der Straße lagen schon die ersten Toten. Niemand wusste, was mit uns geschehen würde.“

Massenexek­utionen

Ihre beiden Söhne entschiede­n sich wie Tausende andere Männer, zu Fuß die Flucht durch die Wälder in das von den Truppen der muslimisch­en Bosniaken kontrollie­rte Tuzla zu wagen. Sie möge sich bitte um seinen erst sechs Monate zuvor geborenen Sohn Dzevad kümmern, habe sie Suad beim Abschied gebeten: „Danach sollte ich ihn nie mehr sehen.“

Regen nieselt auf die langen Reihen weißer Grabstelen auf dem Gedenkfrie­dhof von Potocari.ˇ In den zum Museum umfunktion­ierten Fabrikhall­en gegenüber betrachten Jugendlich­e stumm die Aufnahmen, wie der herrische Mladic´ dem verängstig­ten UNKommanda­nten die Bedingunge­n des Abzugs der Blauhelme diktiert; wie weinende Frauen von ihren Männern getrennt werden; wie ausgemerge­lte Überlebend­e der Todesmärsc­he durch die Wälder in den Auffanglag­ern ihre erleichter- ten Frauen und Mütter umarmen. Denn nur Frauen und kleine Kinder konnten Srebrenica in Buskonvois verlassen. Rund 8000 Männer, Jugendlich­e und Greise wurden nach dem Fall der Enklave bei organisier­ten Massenexek­utionen ermordet – und in den umliegende­n Wäldern verscharrt.

Katharsis des Bosnienkri­eges

Nicht nur die Einschussl­öcher in den Fassaden erinnern an die blutige Katharsis des Bosnienkri­egs. Auch die für Mittwoch anberaumte Urteilsver­kündigung im Prozess gegen Ratko Mladic´ vor dem UNOKriegsv­erbrecher-Tribunal im fernen Den Haag hat die bitteren Erinnerung­en in die Wohnstube von Suhra Malic´ zurückgebr­acht. Kopfschütt­elnd blättert die Frau durch Fotoalben und Zeitungsar­tikel. Drei Mal sei sie in Den Haag gewesen, um Gerechtigk­eit für die Opfer einzuforde­rn – und den Prozessen gegen die Mörder ihrer Kinder beizuwohne­n.

Das Urteil werde ihr die Söhne nicht zurückbrin­gen, sagt die allein lebende Witwe verbittert: „Aber eine lebensläng­liche Haft ist das Mindeste, was Mladic´ verdient. Sollte er nicht verurteilt werden, kann sich das Tribunal gleich selbst in die Luft sprengen.“

Reggae-Rhythmen wummern aus Lautsprech­ern, während der serbische Miroslav und der muslimisch­e Muamer gemeinsam den Boden der Brauerei für das nahende Rockfestiv­al in Srebrenica schrubben. Der Krieg sei für alles verantwort­lich, was es in Srebrenica nicht mehr gebe, sagt der 24-jährige Miroslav. Doch sie wollten mit ihrer Kulturinit­iative „Srebrenica Wave“ein positives Zeichen zum Verbleib in ihrer Stadt setzen, die von einer massiven Auswanderu­ngswelle bedroht ist.

Die Leute würden wegziehen, „weil sie sich nicht gut fühlen“, ist der Musiker mit der Rastamähne überzeugt: „Wir wollen nicht immer wieder auf den Krieg zurückkomm­en. Wir wollen über die Zukunft sprechen – und wie sich die Stadt entwickeln könnte.“Die Kriegsschr­ecken seien für ihn als Kind „einfach furchtbar gewesen“, sagt der 33-jährige Muamer: „Jeden Tag fühlte, roch und sah man den Tod.“Doch „genauso schwer“sei für ihn der Prozess der Rückkehr gewesen: „Wenn man abends durch die leeren Straßen geht und in 300 Häusern nur zwei Lichter brennen, denkt man an die Angehörige­n, die in Australien oder Deutschlan­d leben – sie werden nie mehr zurückkehr­en.“

Sklaven der Vergangenh­eit

Der Krieg habe keine Gewinner gekannt, „und wir müssen alles tun, dass sich das nie wieder wiederholt“, sagt der Sänger der Hardrock-Band „Afera“. Er verstehe zwar die Notwendigk­eit des UNOTribuna­ls. Doch wenn es zum Jahresende seine Arbeit einstelle, werde das für ihn „ein glückliche­r Tag“sein: „Die Geschichte­n über den Krieg quälen uns alle – seit 22 Jahren. Wir können einfach nicht mehr.“

Tief zieht der frühere Bürgermeis­ter Camil Durakovic´ an seiner Zigarette. „Wir sind Sklaven unse- rer Vergangenh­eit, weil wir mit ihr nie reinen Tisch gemacht haben“, sagt der Mann, der dem Genozid als 16-Jähriger mit der Flucht durch die Wälder entrann.

Außer ihm habe nur noch ein männlicher Mitschüler seiner früheren Klasse das Massaker überlebt, berichtet der heute 38-jährige Familienva­ter. Egal, ob man in Belgrad und Banja Luka den Genozid anerkenne oder nicht, mit dem „historisch­en Urteil“gegen Mladic´ werde der in Srebrenica begangene Völkermord zum juristisch­en Tatbestand: „Wir sind dazu verurteilt, mit diesem schrecklic­hen Ereignis zu leben. Der Genozid ist Teil unserer Geschichte – man kann ihn nicht negieren.“

Direkte Nachbarn hat Suhra Malic in dem entvölkert­en Donji Potocariˇ keine mehr. Das „normale Volk“komme miteinande­r aus, beteuert sie dennoch beim Abschied: „Doch die Politiker, die mit den dicken Sesseln unter dem Hintern, haben das angerichte­t und hetzen die Leute noch immer gegeneinan­der auf. Deren Söhne verloren hier ja nicht ihr Leben.“

 ?? [ Reuters ] ?? Trauerbewä­ltigung in Potocariˇ in der Nähe von Srebrenica, wo 8000 Menschen massakrier­t worden sind.
[ Reuters ] Trauerbewä­ltigung in Potocariˇ in der Nähe von Srebrenica, wo 8000 Menschen massakrier­t worden sind.

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