„Jeden Tag roch man den Tod“
Reportage. Heute, Mittwoch, könnte der bosnisch-serbische General Ratko Mladi´c wegen Genozids verurteilt werden. In Srebrenica löst der Prozess vor dem UN-Tribunal gemischte Gefühle aus.
Srebrenica. Auf ihre Krücken gestützt blickt Suhra Malic´ vor ihrem Haus im ostbosnischen Weiler Donji Potocariˇ auf die einstige Batteriefabrik. Mehr als 22 Jahre liegt der heiße Sommertag zurück, an dem sich das Schicksal Tausender Familien auf dem zum Militärhangar umfunktionierten Fabrikgelände im Norden der Muslimenklave Srebrenica eine unfassbare Wende nahm. „Die Haut schmerzt, die Seele leidet“, sagt seufzend die 82-jährige Frau mit dem geblümten Kopftuch: „Nichts und niemand kann mir meine Söhne zurückbringen.“
Der blutige Bosnienkrieg (1992-1995) neigte sich seinem Ende zu, als die bosnisch-serbische Armee (VRS) unter Führung von General Ratko Mladic´ nach zweijähriger Belagerung am 11. Juli 1995 in die ostbosnische Muslim-Enklave Srebrenica einmarschierte. Auf nennenswerten Widerstand der 400 niederländischen Blauhelme, die in der zur UNOSchutzzone erklärten Enklave stationiert waren, stießen die bosnisch-serbischen Eroberer damals nicht: In Panik versuchten 20.000 bis 25.000 muslimische Bosniaken auf das Gelände der UN-Truppe in dem im Norden der Enklave gelegenen Dorf Potocariˇ zu gelangen.
Die drei Häuser ihrer Familie und die umliegenden Wiesen seien voll von Menschen gewesen, erinnert sich Suhra an den Tag, an dem sie ihre beiden ältesten Söhne Fuad und Suad zum letzten Mal sah: „Die Leute hatten furchtbare Angst. Auf der Straße lagen schon die ersten Toten. Niemand wusste, was mit uns geschehen würde.“
Massenexekutionen
Ihre beiden Söhne entschieden sich wie Tausende andere Männer, zu Fuß die Flucht durch die Wälder in das von den Truppen der muslimischen Bosniaken kontrollierte Tuzla zu wagen. Sie möge sich bitte um seinen erst sechs Monate zuvor geborenen Sohn Dzevad kümmern, habe sie Suad beim Abschied gebeten: „Danach sollte ich ihn nie mehr sehen.“
Regen nieselt auf die langen Reihen weißer Grabstelen auf dem Gedenkfriedhof von Potocari.ˇ In den zum Museum umfunktionierten Fabrikhallen gegenüber betrachten Jugendliche stumm die Aufnahmen, wie der herrische Mladic´ dem verängstigten UNKommandanten die Bedingungen des Abzugs der Blauhelme diktiert; wie weinende Frauen von ihren Männern getrennt werden; wie ausgemergelte Überlebende der Todesmärsche durch die Wälder in den Auffanglagern ihre erleichter- ten Frauen und Mütter umarmen. Denn nur Frauen und kleine Kinder konnten Srebrenica in Buskonvois verlassen. Rund 8000 Männer, Jugendliche und Greise wurden nach dem Fall der Enklave bei organisierten Massenexekutionen ermordet – und in den umliegenden Wäldern verscharrt.
Katharsis des Bosnienkrieges
Nicht nur die Einschusslöcher in den Fassaden erinnern an die blutige Katharsis des Bosnienkriegs. Auch die für Mittwoch anberaumte Urteilsverkündigung im Prozess gegen Ratko Mladic´ vor dem UNOKriegsverbrecher-Tribunal im fernen Den Haag hat die bitteren Erinnerungen in die Wohnstube von Suhra Malic´ zurückgebracht. Kopfschüttelnd blättert die Frau durch Fotoalben und Zeitungsartikel. Drei Mal sei sie in Den Haag gewesen, um Gerechtigkeit für die Opfer einzufordern – und den Prozessen gegen die Mörder ihrer Kinder beizuwohnen.
Das Urteil werde ihr die Söhne nicht zurückbringen, sagt die allein lebende Witwe verbittert: „Aber eine lebenslängliche Haft ist das Mindeste, was Mladic´ verdient. Sollte er nicht verurteilt werden, kann sich das Tribunal gleich selbst in die Luft sprengen.“
Reggae-Rhythmen wummern aus Lautsprechern, während der serbische Miroslav und der muslimische Muamer gemeinsam den Boden der Brauerei für das nahende Rockfestival in Srebrenica schrubben. Der Krieg sei für alles verantwortlich, was es in Srebrenica nicht mehr gebe, sagt der 24-jährige Miroslav. Doch sie wollten mit ihrer Kulturinitiative „Srebrenica Wave“ein positives Zeichen zum Verbleib in ihrer Stadt setzen, die von einer massiven Auswanderungswelle bedroht ist.
Die Leute würden wegziehen, „weil sie sich nicht gut fühlen“, ist der Musiker mit der Rastamähne überzeugt: „Wir wollen nicht immer wieder auf den Krieg zurückkommen. Wir wollen über die Zukunft sprechen – und wie sich die Stadt entwickeln könnte.“Die Kriegsschrecken seien für ihn als Kind „einfach furchtbar gewesen“, sagt der 33-jährige Muamer: „Jeden Tag fühlte, roch und sah man den Tod.“Doch „genauso schwer“sei für ihn der Prozess der Rückkehr gewesen: „Wenn man abends durch die leeren Straßen geht und in 300 Häusern nur zwei Lichter brennen, denkt man an die Angehörigen, die in Australien oder Deutschland leben – sie werden nie mehr zurückkehren.“
Sklaven der Vergangenheit
Der Krieg habe keine Gewinner gekannt, „und wir müssen alles tun, dass sich das nie wieder wiederholt“, sagt der Sänger der Hardrock-Band „Afera“. Er verstehe zwar die Notwendigkeit des UNOTribunals. Doch wenn es zum Jahresende seine Arbeit einstelle, werde das für ihn „ein glücklicher Tag“sein: „Die Geschichten über den Krieg quälen uns alle – seit 22 Jahren. Wir können einfach nicht mehr.“
Tief zieht der frühere Bürgermeister Camil Durakovic´ an seiner Zigarette. „Wir sind Sklaven unse- rer Vergangenheit, weil wir mit ihr nie reinen Tisch gemacht haben“, sagt der Mann, der dem Genozid als 16-Jähriger mit der Flucht durch die Wälder entrann.
Außer ihm habe nur noch ein männlicher Mitschüler seiner früheren Klasse das Massaker überlebt, berichtet der heute 38-jährige Familienvater. Egal, ob man in Belgrad und Banja Luka den Genozid anerkenne oder nicht, mit dem „historischen Urteil“gegen Mladic´ werde der in Srebrenica begangene Völkermord zum juristischen Tatbestand: „Wir sind dazu verurteilt, mit diesem schrecklichen Ereignis zu leben. Der Genozid ist Teil unserer Geschichte – man kann ihn nicht negieren.“
Direkte Nachbarn hat Suhra Malic in dem entvölkerten Donji Potocariˇ keine mehr. Das „normale Volk“komme miteinander aus, beteuert sie dennoch beim Abschied: „Doch die Politiker, die mit den dicken Sesseln unter dem Hintern, haben das angerichtet und hetzen die Leute noch immer gegeneinander auf. Deren Söhne verloren hier ja nicht ihr Leben.“