Zehn Meter Gleis – und kein Bahnhof weit und breit
Da fährt keine Eisenbahn drüber: zwei Schienen, 14 Schwellen, ein Prellbock – und sonst nichts.
U nsereiner lässt ja bald einmal etwas liegen. Damit sind keineswegs nur Schirme, Handschuhe oder Hüte gemeint, die sich quasi traditionell länger im Besitz irgendwelcher Fundämter als in dem ihrer Erwerber befinden. Nein, auch durchaus Überraschendes wie Küchenkästen oder dritte Zähne sollen schon verloren worden sein, nicht zu vergessen die 17 Schularbeitshefte, die eine Wiener Französisch-Professorin vor ein paar Jahren (eine Art Freudsche Fehlleistung?) in einem Eisenbahnwaggon, je nun, „vergessen“hatte.
Sei es wie immer: Verloren wird überall, und verloren wird so ziemlich alles. Dennoch, was da an der Marianne-Hainisch-Gasse, direkt unter der Südosttangente, wie verloren daliegt, sprengt selbst allerkühnste Verlustanzeigeerfahrungen: ein geschätzte zehn Meter langes Stück Eisenbahngleis nämlich, Prellbock inklusive.
Einer Nachfrage im verwaltungszuständigen Bezirksamt, Wien Landstraße, folgen amtlich-investigative Bemühungen samt der Erkenntnis, wer über das gegenständliche Grundstück verfügt, eine Liegenschaftsverwertungs-GmbH nämlich, welchselbige ihrerseits keine Ahnung von nichts hat, aber in Gestalt eines mittlerweile pensionierten Mitarbeiters einen Sachkundigen zu kennen meint; der allerdings bleibt bis Redaktionsschluss unerreichbar. Bei „Kunst im öffentlichen Raum“wiederum, einer der üblichen Verdächtigen in einschlägigen Fällen von öffentlich-räumlicher Intervention, weiß man nichts von Aktivitäten am genannten Ort. Ein Blick auf historische Stadtpläne stellt immerhin einen Eisenbahnbezug des Geländes her, führten doch hier einst die Gleise der Schlachthausbahn das Vieh einer düsteren Zukunft im vormaligen Schlachthof zu.
So bleibt an Gewissheit vorerst einzig: Das Gleisstück ist real. Und dass da keine Eisenbahn drüberfährt, da fährt die Eisenbahn drüber.