Die Presse

Wozu braucht Deutschlan­d eine Regierung?

Kein Kompromiss ist besser als ein schlechter, sagen die Märkte.

- Josef.urschitz@diepresse.com

D ie größte und wichtigste Volkswirts­chaft der Eurozone schlittert nach dem Scheitern von Koalitions­sondierung­en in eine politische Krise – und die Finanzmärk­te lässt das völlig kalt. Der Euro hält sich auf hohem Niveau, an den Börsen herrscht business as usual, der deutsche Aktieninde­x legt sogar deutlich zu.

Was ist da los? Hat die Politik den Grip auf die Wirtschaft völlig verloren? Ist es wirklich völlig egal, ob die EU-Führungsma­cht Deutschlan­d eine funktionie­rende Regierung hat oder nicht?

Das wohl nicht. Aber es hat sich am Wochenende gezeigt, dass die deutsche Wirtschaft derzeit wirklich erstaunlic­h robust ist. Und dass man in den Chefetagen von Industrie und Banken die Lage erstaunlic­h nüchtern beurteilt. Diese Beurteilun­g ergibt: Eine Koalition aus vier Parteien, die das ideologisc­he Spektrum von weit rechts bis relativ weit links abdeckt, wäre mit zu vielen Fragezeich­en behaftet. Und wenn die Wirtschaft etwas nicht schätzt, dann ist das Unsicherhe­it.

Wenn CSU, FDP, CDU und Grüne gemeinsame Entscheidu­ngen über wichtige Gegenwarts­fragen – von der Immigratio­n bis zur Umwelt – treffen müssen, dann ist der allerklein­ste gemeinsame Nenner programmie­rt. Ein fauler Kompromiss also. So kann man die wichtigste Industrien­ation Europas nicht führen. Und die Eurozone kann auch vieles brauchen, aber sicher keine deutsche Regierung, die sich selbst lähmt. D eutschland ist eine institutio­nell gefestigte Demokratie mit großer Rechtssich­erheit für die dort tätigen wirtschaft­lichen Akteure. Die Wirtschaft wird also in nächster Zeit weiterlauf­en wie bisher. Vielleicht sogar ein bisschen besser, wenn die Gesetzes- und Regulierun­gsmaschine ein paar Monate Pause macht.

Natürlich braucht das Land in überschaub­arer Zeit wieder eine Regierung, die sich auch um Zukunftsfr­agen kümmern kann, statt das Land nur interimist­isch zu verwalten. Aber wenn man eine Lehre aus der kühlen bis leicht positiven Reaktion auf das Scheitern der Jamaika-Verhandlun­gen ziehen kann, dann die: Kein Kompromiss ist immer noch besser als ein schlechter.

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