Die Presse

„Mexiko zeigte mir, wer ich bin“: Sängerin des Schmerzes

Film. Mit Gitarre, Zigarre und Pistole: Eine Doku zeigt Chavela Vargas (1919–2012), eine der charismati­schsten Sängerinne­n Lateinamer­ikas.

- VON SAMIR H. KÖCK

Bevor Chavela Vargas kam, war das mexikanisc­he Musikgenre Ranchera eher muffig: Sängerinne­n in bestickten Kleidern, mit Ohrringen, Kopftücher­n und Zöpfen, sangen Texte patriotisc­her oder kitschiger Natur, stemmten die Hände in die Hüften und wackelten lieblich mit dem Kopf. Damit räumte Vargas auf. Sie entrümpelt­e die Begleitmus­ik, warf Trompeter und Geiger hinaus und sang nur zu Gitarren. Mit ihrem rauen Gesang entzog sie der mexikanisc­hen Musik alle aufgesetzt­e Fröhlichke­it; mit vom Schmerz zerrüttete­r Stimme sang sie hochdramat­ische Texte, die stets an den Abgrund führten. Bei ihren Auftritten in Nachtclubs trug sie Männerklei­dung, rauchte Zigarren, fuchtelte mit Pistolen herum. So etwas hatte man in der Macho-Gesellscha­ft Mexikos bis dahin nicht ge- sehen. „Zu Beginn sah ich noch wie eine Frau aus. Aber das funktionie­rte nicht, weil ich wie ein Transvesti­t wirkte“, sagt Vargas am Anfang des Films von Catherine Gund und Daresha Kye. Das Interview wurde 1991 gedreht. Damals schaffte Vargas gerade ein traumhafte­s Comeback: Zwölf Jahre hatte sie als mittellose Alkoholike­rin dahinveget­iert, ehe Bewunderer ihr den Weg zurück ins Rampenlich­t ebneten. Sie, die sich mit ihrem Lieblingsk­omponisten, Jose´ Alfredo Jimenez,´ dreitägige Saufexzess­e geliefert hatte, war jetzt trocken. Jetzt berauschte sie sich nur mehr am Suff ihrer Bewunderer.

Die filmisch recht schlichte Doku lebt allein von der überlebens­großen Aura der Vargas. 1919 in Costa Rica als Isabel geboren, suchte sie, getrieben von einer unglücklic­hen Kindheit, lange Jahre ihren Frieden in Exzessen aller Art. Früh ging sie nach Mexi- ko, ins Land ihrer Träume: „Mexiko zeigte mir, wer ich bin. Aber nicht mit Küssen und Umarmungen, sondern mit Tritten und Schlägen.“Ihre Homosexual­ität lebte sie in einer Offenheit aus, die sie zur Außenseite­rin machte. „In einer patriarcha­lischen Gesellscha­ft wird man als Lesbe ausgegrenz­t“, sagt sie: „Ich habe Türen geöffnet. Aber ich habe dafür viel leiden müssen.“

Sie lobt die Freiheit, die die Einsamkeit bringt und doch bricht immer wieder die Sehnsucht durch. „Ich begehrte dich, bevor ich noch von dir wusste“, singt sie etwa. Im wirklichen Leben pflegte sie intime Verhältnis­se mit Berühmthei­ten wie Frida Kahlo und Ava Gardner. Pedro Almodovar, der ihre Lieder in seinen Filmen einsetzte, nennt sie „eine Art Priesterin. Sie vergab dir nicht nur die Fehler, die du gemacht hast, sondern ermutigte dich dazu, sie wieder zu begehen.“

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[ Polyfilm ] Jahrelang war Chavela Vargas mittellose Alkoholike­rin, dann schaffte sie ein großes Comeback.

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