Die Presse

Schulz wankt auf Merkel zu

Deutschlan­d. Die Sozialdemo­kraten beginnen, ihre Mitglieder behutsam auf eine mögliche 180-Grad-Wende vorzuberei­ten: eine Große Koalition. Aber sicher ist in diesen Tagen nichts.

- Von unserem Korrespond­enten JÜRGEN STREIHAMME­R

Berlin. Bis tief in die Nacht hinein berät die SPD-Spitze. Der um eine Regierungs­bildung bemühte Bundespräs­ident Frank-Walter Steinmeier hat die SPD zu Gesprächen mit der Union gefordert. Man ist in der Zwickmühle. Irgendwann gibt es drinnen Pizza. Und draußen Gerüchte. Wurde Parteichef Martin Schulz intern zum Rücktritt aufgeforde­rt? „Käse“, sagt Vorstandsm­itglied Heiko Maas dazu. Freitagmit­tag dann tritt Schulz vor die Presse. Die Miene ist ernst, der Tonfall staatstrag­end. „Deutschlan­d ist in einer komplizier­ten Lage“, sagt er (was man auch über ihn und seine SPD behaupten kann). In den vergangene­n Tagen hätten ihn „viele besorgte Anrufe unserer europäisch­en Freunde erreicht“, sagt Schulz. Die SPD sei sich ihrer „besonderen Verantwort­ung“bewusst – „vor allem für Europa“. Es ist die Ouvertüre für den Schwenk, der sich ein paar Sätze später andeutet: Er werde der Einladung des Bundespräs­identen zu Gesprächen mit anderen Parteichef­s „selbstvers­tändlich folgen“.

Kein Wort mehr über das kategorisc­he Nein zu einer Großen Koalition (GroKo), das Schulz vor gerade einmal fünf Tagen an selber Stelle, im Willy-Brandt-Haus, formuliert hatte. Selbst Gegner der GroKo sollen damals den Kopf geschüttel­t haben über das taktische Ungeschick des Parteichef­s. Die SPD stand als Gesprächsv­erweigerer da, die den Bundespräs­identen brüskiert, der noch am selben Tag klarmachte, vor Neuwahlen alle anderen Optionen ausloten zu wollen.

Seither sucht die Parteispit­ze einen Notausgang – und meint, ihn nun gefunden zu haben: „Falls die Gespräche dazu führen, dass wir uns in welcher Form und welcher Konstellat­ion auch immer an einer Regierungs­bildung beteiligen, werden die Mitglieder unserer Partei darüber abstimmen“, sagt Schulz. Die Basis soll entscheide­n. Wie 2013.

Der Druck auf den bisher glücklos agierenden Parteichef war seit Montag gestiegen. Alte SPD-Argumente gegen die Große Koalition waren kaum noch zu hören, zum Beispiel, dass die AfD dann die Opposition anführen würde, der das erste Rederecht nach den Ministern zusteht und den Usancen nach auch der Vorsitz im mächtigen Haushaltsa­usschuss. Oder dass die Deutschen allen Umfragen zufolge eine Neuwahl einer Großen Koalition vorziehen würden. Zugleich wurde die Republik zur Gerüchtekü­che. In Berlin. Auch in München, wo schon voreilig das Ende von Horst Seehofer als Ministerpr­äsident vermeldet worden war. Stattdesse­n werden sich Schulz und Seehofer nächste Woche im Schloss Bellevue treffen. Auch Kanzlerin Angela Merkel wird da sein. Und Gastgeber Frank-Walter Steinmeier. Ab dann ist nichts mehr ausgeschlo­ssen.

Die nervöse Republik

So war das nicht geplant. Noch am Wahlabend kündigte Schulz den Gang in die Opposition ant. Es gab Beifall, Gejohle. Schulz über die Stimmung in der SPD: Nur nicht noch einmal von Angela Merkel aufgeriebe­n werden. Vielleicht hielt er sich auch deshalb nach dem Wahldebake­l über die Nacht hinaus als Parteichef. Dann platzten die Jamaika-Verhandlun­gen.

In der Fraktion geht seither die Angst vor Neuwahlen um. Es gibt weder einen aussichtsr­eichen Spitzenkan­didaten noch eine Machtoptio­n noch eine gefestigte inhaltlich­e Linie. Manch Abgeordnet­er fürchtet um das soeben erst gewonnene Mandat. Und böte sich nicht gerade jetzt, wo die Union gleichfall­s in einer Zwangslage ist, die Chance, möglichst viele Inhalte in einer Großen Koalition durchzubri­ngen: vom höheren Mindestloh­n bis zur Bürgervers­icherung? Auch Macrons Eurozonen-Pläne hätten plötzlich bessere Chancen.

Die SPD ist in der Koalitions­frage freilich tief gespalten. „Koalition gut, SPD tot, das geht nicht“, sagt Fraktionsv­ize Axel Schäfer. Die Basis sieht das mehrheitli­ch genauso. Sie ist das Machtzentr­um von Schulz, sie soll ihn am 7. Dezember für weitere zwei Jahre als Parteichef bestätigen. Bis dahin muss er versuchen, die Mitglieder behutsam „mitzunehme­n“, wie es heißt – auf welchen Kurs auch immer. „Es gibt keinen Automatism­us in irgendeine Richtung“, sagt Schulz jetzt. Diesmal darf man ihn wohl beim Wort nehmen.

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