Schulz wankt auf Merkel zu
Deutschland. Die Sozialdemokraten beginnen, ihre Mitglieder behutsam auf eine mögliche 180-Grad-Wende vorzubereiten: eine Große Koalition. Aber sicher ist in diesen Tagen nichts.
Berlin. Bis tief in die Nacht hinein berät die SPD-Spitze. Der um eine Regierungsbildung bemühte Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat die SPD zu Gesprächen mit der Union gefordert. Man ist in der Zwickmühle. Irgendwann gibt es drinnen Pizza. Und draußen Gerüchte. Wurde Parteichef Martin Schulz intern zum Rücktritt aufgefordert? „Käse“, sagt Vorstandsmitglied Heiko Maas dazu. Freitagmittag dann tritt Schulz vor die Presse. Die Miene ist ernst, der Tonfall staatstragend. „Deutschland ist in einer komplizierten Lage“, sagt er (was man auch über ihn und seine SPD behaupten kann). In den vergangenen Tagen hätten ihn „viele besorgte Anrufe unserer europäischen Freunde erreicht“, sagt Schulz. Die SPD sei sich ihrer „besonderen Verantwortung“bewusst – „vor allem für Europa“. Es ist die Ouvertüre für den Schwenk, der sich ein paar Sätze später andeutet: Er werde der Einladung des Bundespräsidenten zu Gesprächen mit anderen Parteichefs „selbstverständlich folgen“.
Kein Wort mehr über das kategorische Nein zu einer Großen Koalition (GroKo), das Schulz vor gerade einmal fünf Tagen an selber Stelle, im Willy-Brandt-Haus, formuliert hatte. Selbst Gegner der GroKo sollen damals den Kopf geschüttelt haben über das taktische Ungeschick des Parteichefs. Die SPD stand als Gesprächsverweigerer da, die den Bundespräsidenten brüskiert, der noch am selben Tag klarmachte, vor Neuwahlen alle anderen Optionen ausloten zu wollen.
Seither sucht die Parteispitze einen Notausgang – und meint, ihn nun gefunden zu haben: „Falls die Gespräche dazu führen, dass wir uns in welcher Form und welcher Konstellation auch immer an einer Regierungsbildung beteiligen, werden die Mitglieder unserer Partei darüber abstimmen“, sagt Schulz. Die Basis soll entscheiden. Wie 2013.
Der Druck auf den bisher glücklos agierenden Parteichef war seit Montag gestiegen. Alte SPD-Argumente gegen die Große Koalition waren kaum noch zu hören, zum Beispiel, dass die AfD dann die Opposition anführen würde, der das erste Rederecht nach den Ministern zusteht und den Usancen nach auch der Vorsitz im mächtigen Haushaltsausschuss. Oder dass die Deutschen allen Umfragen zufolge eine Neuwahl einer Großen Koalition vorziehen würden. Zugleich wurde die Republik zur Gerüchteküche. In Berlin. Auch in München, wo schon voreilig das Ende von Horst Seehofer als Ministerpräsident vermeldet worden war. Stattdessen werden sich Schulz und Seehofer nächste Woche im Schloss Bellevue treffen. Auch Kanzlerin Angela Merkel wird da sein. Und Gastgeber Frank-Walter Steinmeier. Ab dann ist nichts mehr ausgeschlossen.
Die nervöse Republik
So war das nicht geplant. Noch am Wahlabend kündigte Schulz den Gang in die Opposition ant. Es gab Beifall, Gejohle. Schulz über die Stimmung in der SPD: Nur nicht noch einmal von Angela Merkel aufgerieben werden. Vielleicht hielt er sich auch deshalb nach dem Wahldebakel über die Nacht hinaus als Parteichef. Dann platzten die Jamaika-Verhandlungen.
In der Fraktion geht seither die Angst vor Neuwahlen um. Es gibt weder einen aussichtsreichen Spitzenkandidaten noch eine Machtoption noch eine gefestigte inhaltliche Linie. Manch Abgeordneter fürchtet um das soeben erst gewonnene Mandat. Und böte sich nicht gerade jetzt, wo die Union gleichfalls in einer Zwangslage ist, die Chance, möglichst viele Inhalte in einer Großen Koalition durchzubringen: vom höheren Mindestlohn bis zur Bürgerversicherung? Auch Macrons Eurozonen-Pläne hätten plötzlich bessere Chancen.
Die SPD ist in der Koalitionsfrage freilich tief gespalten. „Koalition gut, SPD tot, das geht nicht“, sagt Fraktionsvize Axel Schäfer. Die Basis sieht das mehrheitlich genauso. Sie ist das Machtzentrum von Schulz, sie soll ihn am 7. Dezember für weitere zwei Jahre als Parteichef bestätigen. Bis dahin muss er versuchen, die Mitglieder behutsam „mitzunehmen“, wie es heißt – auf welchen Kurs auch immer. „Es gibt keinen Automatismus in irgendeine Richtung“, sagt Schulz jetzt. Diesmal darf man ihn wohl beim Wort nehmen.