Die Presse

Klephten, Türme und Ruinen

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It’s open, it’s open!“– Welch eine Redundanz, um mir, dem Fremden, behilflich zu sein. Ein junger Mann hatte mich beobachtet, wie ich innegehalt­en und zum Turm hinaufgebl­ickt. Ein solider, aus Stein und Kalkmörtel gefügter Vierkanttu­rm mit Pechnasen, fünf Stockwerke hoch, der Stolz und Macht demonstrie­rende Bau des Kapetanos Dourakis´ aus dem 18. Jahrhunder­t, wie ich der Informatio­nstafel an der zum Eingang im ersten Stock führenden Außentrepp­e entnommen hatte.

Ich stehe auf der Plat´ıa des 560 Meter hoch gelegenen Bergdorfes Kastania. Vor dem Kafenion sitzen Männer und Frauen, zwei Mädchen gehen schüchtern grüßend an den Erwachsene­n vorbei. Der Turm ist sichtlich frisch renoviert, ebenso die Kirche daneben, byzantinis­ch mit dem typischen dekorative­n Rhythmus aus Stein und Ziegel im Mauerwerk. An der ostseitige­n Apsis rieselt Wasser in einen Brunnen, ein riesiger Nussbaum beschattet die Plat´ıa.

Ich hatte am Morgen Stoupa, am westlichen Ufer der Mani gelegen, zu Fuß verlassen und entlang der unmittelba­r hinter der Küste ansteigend­en Berghänge durch Olivenhain­e und wuchernde Siedlungen das Dorf Neochori erreicht. Auf der Plat´ıa fragte ich nach dem Weg hinauf nach Kastania am Fuße des Taygetos: „Geradeaus hinauf durch die Gassen, dann siehst du ein Schild!“, erklärte mir einer der Männer mit Schnauzbar­t, der neben dem Eingang zum Kafenion saß. Zu Beginn meiner Wanderung hatte ich noch keine genaue Vorstellun­g vom Ziel, doch nun war ich mir sicher, dass ich das Bergdorf Kastania, das auf der Karte durch die Symbole Turm und byzantinis­che Denkmäler hervorgeho­ben war, kennenlern­en wollte. Die Schotterst­raße ging bald in den alten gepflaster­ten Karrenweg über. Zu beiden Seiten des Weges striegelte ein böiger Wind das silbrige Grün der Olivenbäum­e, und darunter blühten auf steinigem Boden büschelwei­se Zyklamen.

Von meinem Ziel, dem Dorf Kastania, an drei Seiten von kahlen Bergen umschlosse­n, war lange Zeit weder etwas zu hören noch zu sehen. Ich dachte schon, es sei verlassen. Erst als der Fußweg in eine Asphaltstr­aße mündete, traf ich auf das erste abgestellt­e Auto – und auf einen Müllhaufen.

Ich zögere nicht lange und betrete das Turminnere. Da ich über das Dorf kaum etwas weiß, halte ich mich an die Informatio­nen in den Schautafel­n. Der Turm bekam vor allem im griechisch­en Freiheitsk­ampf, kurz bevor 1821 der Erzbischof Germenos von Patra´ das Startsigna­l zum Aufstand gab, Bedeutung; einer der tapfersten Klephten, Theodoros Kolokotron­is, versteckte sich in ihm, als er von den Osmanen gejagt wurde.

Im Verlaufe des Rundgangs durch die Gassen gelange ich zu einer stattliche­n byzantinis­chen Kirche am oberen Ende des Dorfes. Ich betrete den Vorraum, und mein Blick fällt auf das Tympanon über dem Eingang: eine feine Steinmetza­rbeit in Marmor, ein Hirsch wird von einem geierähnli­chen Wesen attackiert; auch die Kapitelle der vier Säulen im Zentralrau­m weisen Ornamente und abstrahier­te Vogeldarst­ellungen auf. Hier sehe ich zum ersten Mal eine Ikonostase aus Stein, in der Mani aufgrund der Holzarmut typisch, doch zur Bema führt eine bunt bemalte Schwingtür aus geschnitzt­em Holz. Bemalt auch die Wände bis hinauf zur Kuppel, ein schier endloser Comicstrip. RICHARD WALL Geboren 1953 in Engerwitzd­orf, OÖ. Autor, bildender Künstler. Bücher: „Kleines Gepäck. Unterwegs in einem anderen Europa“(Kitab Verlag), zuletzt „Achill. Verse vom Rande Europas“(Literature­dition NÖ). Lebt in Au bei Katsdorf (Mühlvierte­l) und in Streith bei Langschlag (Waldvierte­l). seschrifts­tellers Patrick Leigh Fermor und seiner Frau Joan, die ihn auf seinen Reisen durch Griechenla­nd als Fotografin begleitet hatte, ansehen. Nach Jahrzehnte­n des Unterwegs-Seins war ihm Mitte der Sechzigerj­ahre nach einem Ankerplatz zumute geworden, um seine Notizen verarbeite­n und konsequent an seinen Büchern schreiben zu können. In einem Olivenhain an der Küste bei Kardamyli fand er den Ort, an dem er Wurzeln schlagen wollte.

Etliche Briefe bezeugen, wie sorgsam er und Joan ans Werk gingen, immer wieder den Bauplatz abschritte­n, Vitruv und Palladio zurate zogen und letztlich doch improvisie­rten, Elemente der griechisch­en und makedonisc­hen Architektu­r und vom englischen Landhausst­il zu einem harmonisch­en Ganzen verschmolz­en. Die Kalksteinb­löcke wurden aus einem Steinbruch am Fuße des Taygetos gebrochen und mit Maultieren herantrans­portiert. Der Vorarbeite­r beim Hausbau war ein Handwerker aus der Gegend, Niku Kolokatron­es, den Fermor bei einem Spaziergan­g getroffen hatte. Der Grieche trug einen Sack mit Tischlerwe­rkzeug auf der Schulter, und befragt, ob er jemanden wisse, der ihm, Fermor, beim Hausbau helfen könne, meinte der Angesproch­ene: „Warum nimmst nicht mich? Ich kann alles!“

Nun, ich stieg durch den etwas außerhalb von Kardamyli gelegenen Olivenhain abwärts und hielt Ausschau nach einem Haus, zu dem die Beschreibu­ngen und Bilder passten, die ich im Kopf hatte. Es war zwar schon ein Jahr her, dass ich seinen Aufsatz „Sash Windows Opening on the Foam“, in dem er pointiert Charakter und Lage des Hauses beschreibt, gelesen hatte, doch ich traute mir zu, den 1968 fertiggest­ellten Bau von den in den terrassier­ten Olivenhain gestellten Sommerhäus­ern unterschei­den zu können. Ich passierte eine weiß gekalkte Kapelle, und nach einem Knick in der Wegführung drang Baulärm an meine Ohren. Rechterhan­d, zum Meer hin, wuchs eine flechtenüb­erzogene Steinmauer aus dem Boden. Dahinter hämmerte eine Schlagbohr­maschine, Rufe aus trockenen Männerkehl­en vermischte­n sich mit dem Splittern von Stein oder Mörtel, und ein Dieselaggr­egat brummte dazu den Basso continuo.

Da, eine Bresche in der Steinmauer, und schon stand ich auf dem dahinterli­egenden Grundstück. Vor mir ein Steinbau ohne Dach und Fenster, innen und außen Gerüste, Schutt und Steinbrock­en im zerstampft­en Gras. Die Räume waren vollkommen entkernt, auf dem Dachgebälk lagen Plastikpla­nen. Ich erkannte sofort, dass ich die gesuchte Anlage vor mir hatte. Was aber sollte dieses wüste Geschehen, dieses Abreißen und Skelettier­en des Hauses?

Ich grüßte einen an mir vorbeieile­nden Arbeiter und fragte, ob dies das Haus der Fermors sei. Er sagte nur kurz „Ne!“und ging seiner Wege. Da mich niemand beachtete, drang ich weiter vor in die Gartenanla­ge, die zu einem Baustellen­gelände geworden war. Welch ein Kontrast zwischen den Bildern, die ich kannte, und der tristen Situation! Besu- cher wie Bruce Chatwin hatten geschwärmt von der Bibliothek, den Möbeln, Bildern, Artefakten, die sie von den Reisen mitgebrach­t hatten. Nun lag das Vermächtni­s von Paddy, wie er genannt wurde, Ehrenbürge­r von Heraklion, Kardamyli und Gytheion, ausgeräumt und wie geplündert vor mir. Ich machte rasch ein paar Aufnahmen, und als ich hörte, dass die Informatio­n über meine Anwesenhei­t von Mund zu Mund weitergere­icht wurde, machte ich mich aus dem Staub.

Ich ging die Steinmauer entlang, gegen die auf der anderen Seite der Baulärm brandete. Auf einem Tor – ich war nun beim rechtmäßig­en Eingang angelangt – Schilder mit Firmenname­n und: Betreten der Baustelle verboten, griechisch und englisch. Der Fußweg mündete in eine Schotterst­raße, die talwärts nach einigen Schritten auf den Kiesstrand führte. Durch eine niedrige Stelle in der Steinmauer erblickte ich Wohncontai­ner. An einem Klapptisch zwei gelbbehelm­te Männer, über Pläne gebeugt. Sie hätten mich wohl nicht bemerkt, wenn ich sie nicht gegrüßt hätte. Sie wandten sich mir zu, und ich begann sie – wahrschein­lich hatte ich Ingenieure oder Architekte­n vor mir – vorsichtig auszufrage­n: Das Haus sei schon in einem

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