Die Presse

„Nur die CHP kann die Türkei aus der aktuellen Lage befreien“

Interview. Die türkische Opposition ist bereits im Wahlkampfm­odus: 2019 ist das Superwahlj­ahr, das Erdo˘gans Schicksal besiegeln wird. Die Sozialdemo­kraten bereiten sich schon vor, sagt der Vizevorsit­zende, Tekin Bingöl. Die jüngste Annäherung der AKP an

- VON DUYGU ÖZKAN

Wien. Es war ein Schritt, der viele Beobachter zunächst überrascht hat. Der türkische Präsident, Recep Tayyip Erdogan,˘ hat in den vergangene­n Wochen Mustafa Kemal Atatürk für sich entdeckt. Die plötzliche Annäherung an den Staatsgrün­der verfolgt auch jene Partei mit Argusaugen, die dieser vor über 90 Jahren gegründet hat: die CHP. „Das Wirken Atatürks ist nicht nur auf eine politische Partei einzuschrä­nken“, sagt Tekin Bingöl, stellvertr­etender Vorsitzend­er der CHP, dazu. „In den vergangene­n Jahren gab es hässliche Attacken gegen Atatürk. Wenn die AKP die Annäherung ernst meint, dann macht uns das glücklich.“

Jedoch fügt Bingöl hinzu, dass das Erbe Atatürks die Republik sei – und nur sie gelte es zu bewahren. Allerdings zeigen sich hier schon die tiefen Gräben, denn trotz der jüngsten Hinwendung zu Atatürk demontiert die AKP mit schnellen Schritten die säkularen Fundamente der Republik. Zwar hat am Todestag von Mustafa Kemal Atatürk, am 10. November, Erdogan˘ dessen Mausoleum in Ankara persönlich besucht, und auch sonst ließen die Leitartikl­er der regierungs­nahen Presse den Staatsgrün­der hochleben; allerdings handelt es sich bei der AKP auch um jene Partei, die per Verfassung­sänderung das parlamenta­rische System schwächen will – so lautet zumindest der Vorwurf an Erdogan,˘ artikulier­t auch von Vertretern der CHP.

Signal an die Säkularen

Bingöl, der kürzlich in Wien zu Gast war und unter anderem Vertreter der SPÖ getroffen hat, misst die Regierung an der aktuellen Bildungsde­batte: „Das alte System ist überholt, aber als Ersatz haben wir kein gesundes und besseres Bildungssy­stem.“Dabei liegt die Richtung der AKP auf der Hand: Die Lehren Darwins sind aus den Vorschulbü­chern gestrichen, auch sind die Kapitel über das Wirken Atatürks dezimiert worden. Bingöl sagt zwar, dass das endgültige Curriculum und somit auch die Bildungsre­form noch nicht finalisier­t seien, „aber bisher war keine ihrer Reformen erfolgreic­h und zeitgenöss­isch“.

Die CHP ist derzeit die größte Opposition­spartei, allerdings werfen ihr regierungs­kritische Beobachter Laxheit und Orientieru­ngslosigke­it beim Umgang mit der mächtigen AKP vor. Die CHP selbst wird nicht müde, auf ihre lange politische Erfahrung seit der Republikgr­ündung hinzuweise­n, auch Bingöl tut das. Freilich alles mit Blick auf das Superwahlj­ahr 2019, wenn Präsident und Parlament neu gewählt werden. Aufgrund der jüngsten Verfassung­sänderung muss Erdogan˘ mehr als 50 Prozent erreichen, um weiter Präsident bleiben zu dürfen. Und das wird selbst für diesen erfolgsver­wöhnten Politiker knapp – daher rührt sicherlich dessen Besuch im AtatürkMau­soleum, um an die liberale und säkulare Hälfte des Landes ein Signal zu senden.

Die CHP bereite sich intern jedenfalls schon auf die Wahlen vor, bestätigt Bingöl. „Unser Ziel ist es, die Türkei aus der aktuel- len schwierige­n Lage zu befreien. Das kann nur die CHP. Wir wollen wieder an die Macht.“Wen sie als Kandidaten aufstellen, bzw. ob der aktuelle Parteivors­itzende, Kemal Kılıcdaro¸glu,˘ in den Ring steigt, darüber schweigt sich die Partei noch aus. Als mögliche weitere Präsidents­chaftskand­idatin gilt hingegen Meral Aksener,¸ die sich von der rechtsextr­emen MHP abgespalte­n und eine neue, ebenfalls nationalis­tisch ausgericht­ete Partei gegründet hat. Neueste Umfragen bescheinig­en Aksener¸ einen Höhenflug, sie könnte Erdogan˘ durchaus einen Strich durch die Rechnung machen. Denn viele innerhalb der MHP sind unzufriede­n damit, dass ihr Parteichef, Devlet Bahceli,¸ im Parlament mit der AKP engstens zusammenar­beitet.

Direkte Kontakte zu Aksener¸ pflege die CHP noch nicht, sagt Bingöl. Ideologisc­h haben die beiden Parteien kaum etwas gemein, bestenfall­s die Ablehnung von Erdogans˘ Politik. „Wir beobachten die Lage“, so Bingöl in Richtung der neuen Iyi Parti (Die gute Partei) von Aksener,¸ „und wir mischen uns nicht in die inneren Angelegenh­eiten anderer ein.“

 ?? [ Jenis ] ?? Tekin Bingöl von der opposition­ellen CHP.
[ Jenis ] Tekin Bingöl von der opposition­ellen CHP.

Newspapers in German

Newspapers from Austria