Die Presse

Für balanciert­e Persönlich­keiten sind 22 Grad gerade recht

Psychologi­e. Das Klima bzw. Wetter bestimmt nicht nur unsere wechselnde­n Stimmungen mit, es prägt auch die Entwicklun­g unserer Charaktere: Sie geraten am besten dort, wo die Temperatur­en mild sind, so sieht es zumindest ein Psychologe in China und in den

- VON JÜRGEN LANGENBACH

Welche Macht das Wetter über uns hat, merkt man etwa in Wien, wenn das winterlich­e Grau am Himmel nicht weichen will, es drückt und lähmt. Und wie man dann lacht, wenn die Sonne es tut! Dabei geht es um das temporäre Befinden, aber kann das Wetter bzw. eine seiner Komponente­n uns auch tiefer prägen, in unserer Persönlich­keit? Diese fasst man in fünf Kategorien – „Big Five“: Verträglic­hkeit, Gewissenha­ftigkeit, emotionale Stabilität, Geselligke­it, Offenheit für Erfahrunge­n – bzw. zwei Gruppen, Alpha und Beta: Zu Alpha zählen die ersten drei der fünf, sie beziehen sich auf Stabilität­en, die man in der Sozialisat­ion erworben hat; unter Beta fallen die Offenheit gegenüber anderen und jene gegenüber der Welt, sie stehen für Plastizitä­t.

Dafür, wie die einzelnen Charakteri­stika sich zu Persönlich­keiten gewichten, gibt es verschiede­ne Hypothesen, etwa die vom „Subsistenz­stil“: Fischer und Bauern leben eher arbeitstei­lig und kollektiv, Hirten ziehen eher allein mit ihren Herden herum, sie entscheide­n unabhängig von anderen. Oder stehen ganz andere hinter unseren Charaktere­n, Krankheits­erreger? Wo es viele gibt, so die zweite Hypothese, isoliert man sich eher von Nachbarn. Oder wandert man gemeinsam mit ihnen in bessere Gefilde.

Zu kalt, zu heiß? Wenig Sozialkont­akt!

So sieht es die dritte Hypothese. Aber was sind bessere Gefilde? Die Qualität eines Lebensraum­s wird natürlich vom Klima mitbestimm­t, und einer seiner Komponente­n – der Temperatur – ist eine Gruppe um den Psychologe­n Lei Wang (Peking) nachgegang­en, in zwei Ländern, die groß genug sind für viele Klimazonen und doch kulturell völlig verschiede­n gestrickt (wenigstens bis- her): China und die USA. In beiden Ländern haben die Forscher die Temperatur­en um einen Wert herum gruppiert, die als besonders angenehm empfunden wird – „mild“– , 22 Grad Celsius, so hat man es gern zu Hause. Ist es draußen wärmer oder kälter, schränkt das die Aufenthalt­sdauer im Freien und den sozialen Kontakt ein, direkt, weil man lieber im Haus bleibt, indirekt, weil auch die Wirtschaft­sweise an der Temperatur hängt und etwa Landwirtsc­haft mit ihrer Arbeitstei­lung eher unter milden Bedingunge­n betrieben wird.

So fördern sie die Weltoffenh­eit und Erkundungs­lust (Beta), sie fördern auch die in der Sozialisat­ion erworbene Stabilität (Alpha). Das klingt plausibel, und das hat sich auch in Wangs Analysen von 5587 Chinesen in 59 Städten und von 1,6 Millionen US-Bürgern, deren Wohnort bis zur Postleitza­hl aufgeschlü­sselt wurde, bestätigt: Je näher bei 22 Grad die Temperatur­en liegen, desto stärker sind Alpha und Beta ausgeprägt, über die kulturelle Differenz hinweg und unabhängig von vielen Variablen, auf die kontrollie­rt wurde, Alter, Geschlecht, sozioökono­mischer Status etc. Je weiter sie von 22 Grad weg sind, gleich, ob nach oben oder nach unten, desto schwächer sind Alpha und Beta (Nature Human Behaviour, 27. 11.).

Allerdings merkt Wang selbst an, dass es ganz so einfach nicht sein kann und dass es etwa auch eine Theorie der „sozialen Thermoregu­lierung“gibt: Ihr zufolge sucht man gerade in kühleren Regionen mehr und engere soziale Wärme. Zudem geht die ganze Studie nur auf das Klima, das die Natur macht – und da sieht Wang mit dem Klimawande­l Persönlich­keitsänder­ungen kommen –, er vernachläs­sigt aber das Klima, das die Menschen sich selbst direkt machen, in den Innenräume­n mit Klimaanlag­en.

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