Prokofieff, zwischen den Zeilen gehört
Musikverein. Mariss Jansons nimmt mit dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks die Vorschriften des Komponisten ernst und bricht so den Bombast.
Erster Abend des Gastspiels des Symphonieorchesters des Bayerischen Rundfunks unter Mariss Jansons: Die Münchner Musiker galten seit jeher als das einzige Konkurrenzorchester, das die Berliner Philharmoniker im eigenen Land zu fürchten hatten – zumindest, solang Deutschland geteilt war. Unter der Führung von Jansons haben sie ihre eminente Qualität halten können und spielen auch Musik, die von reisenden Orchestern gern als Schaustellerei instrumentaler Virtuosität benützt wird, in einem musikantischen Geist, der Hörgewohnheiten korrigieren kann.
Sergej Prokofieffs Fünfte Symphonie gab uns dafür am Sonntagabend im großen Musikvereinssaal das beste Beispiel: Man kann aus dieser Partitur grell-pastosen sozialistisch-realistischen Bombast machen – dafür hat schon die sowjetische Aufführungsgeschichte satte Beispiele geliefert. Man kann aber auch den Beweis führen, dass Pro- kofieff – ebenso wie sein Kollege Schostakowitsch, für dessen Integrität in jüngster Zeit viele bedeutende Interpreten votieren – gegen die politische Vereinnahmung seiner Kunst zumindest zwischen den Zeilen kräftig revoltiert hat.
Das lässt sich auch an der anno 1945 zur „Siegessymphonie“gekürten Fünften demonstrieren, deren viele Oktavverdoppelungen und dicken Blechbläserpanzerungen Dirigenten zu dreiviertelstündigen Demonstrationen orchestraler Pathetik animieren.
Zarteste Pastellfarben
Hier haken Jansons und die Bayern ein: Sie nehmen die Chancen, große, filmmusikreife Steigerungen zu bauen, durchaus wahr, doch lassen sie zwischendrin herrlich lyrische Melodiebögen aufblühen und mischen die zartesten Pastellfarben ab.
Diese suggeriert ihnen Prokofieff nämlich auch, nur muss man die zahlreichen einschlägigen dynamischen Vorschriften ernst nehmen. Was das betrifft, lässt sich Mariss Jansons nie lumpen. Er ist, versteht sich, auch ein idealer Begleiter für einen Meister des romantischen Klavierspiels wie Yefim Bronfman, der Beethovens Viertes in der nämlichen analytischen Weise durchleuchtet und vom Forte bis ins behutsamste Pianissimo die Stimmen schön und kräftig tönen lässt: Leise zu spielen heißt nicht, die musikalischen Linien inkonsistent werden zu lassen. So verhilft man Beethovens Kontrapunktik auch dort, wo sie sonst im Pedalnebel leicht verloren geht, ans Licht.
In Wahrheit verhält es sich hier wie bei Prokofieff: Der Spieltradition gebricht es an Deutlichkeit. Sie bringen Bronfman wie Jansons in Hülle und Fülle ein. Und plötzlich werden die Klänge in ihrer Aussagekraft greifbar. An Zerberus’ und Orpheus’ Gesang im Zentrum des Beethoven-Konzerts zu denken scheint nicht mehr abstrus – und wenn im „stalinistischen“Siegestaumel Prokofieffs plötzlich alle Sicherungen durchbrennen, die Musik wie irr weiterläuft . . .