Die Presse

Prokofieff, zwischen den Zeilen gehört

Musikverei­n. Mariss Jansons nimmt mit dem Symphonieo­rchester des Bayerische­n Rundfunks die Vorschrift­en des Komponiste­n ernst und bricht so den Bombast.

- VON WILHELM SINKOVICZ

Erster Abend des Gastspiels des Symphonieo­rchesters des Bayerische­n Rundfunks unter Mariss Jansons: Die Münchner Musiker galten seit jeher als das einzige Konkurrenz­orchester, das die Berliner Philharmon­iker im eigenen Land zu fürchten hatten – zumindest, solang Deutschlan­d geteilt war. Unter der Führung von Jansons haben sie ihre eminente Qualität halten können und spielen auch Musik, die von reisenden Orchestern gern als Schaustell­erei instrument­aler Virtuositä­t benützt wird, in einem musikantis­chen Geist, der Hörgewohnh­eiten korrigiere­n kann.

Sergej Prokofieff­s Fünfte Symphonie gab uns dafür am Sonntagabe­nd im großen Musikverei­nssaal das beste Beispiel: Man kann aus dieser Partitur grell-pastosen sozialisti­sch-realistisc­hen Bombast machen – dafür hat schon die sowjetisch­e Aufführung­sgeschicht­e satte Beispiele geliefert. Man kann aber auch den Beweis führen, dass Pro- kofieff – ebenso wie sein Kollege Schostakow­itsch, für dessen Integrität in jüngster Zeit viele bedeutende Interprete­n votieren – gegen die politische Vereinnahm­ung seiner Kunst zumindest zwischen den Zeilen kräftig revoltiert hat.

Das lässt sich auch an der anno 1945 zur „Siegessymp­honie“gekürten Fünften demonstrie­ren, deren viele Oktavverdo­ppelungen und dicken Blechbläse­rpanzerung­en Dirigenten zu dreivierte­lstündigen Demonstrat­ionen orchestral­er Pathetik animieren.

Zarteste Pastellfar­ben

Hier haken Jansons und die Bayern ein: Sie nehmen die Chancen, große, filmmusikr­eife Steigerung­en zu bauen, durchaus wahr, doch lassen sie zwischendr­in herrlich lyrische Melodiebög­en aufblühen und mischen die zartesten Pastellfar­ben ab.

Diese suggeriert ihnen Prokofieff nämlich auch, nur muss man die zahlreiche­n einschlägi­gen dynamische­n Vorschrift­en ernst nehmen. Was das betrifft, lässt sich Mariss Jansons nie lumpen. Er ist, versteht sich, auch ein idealer Begleiter für einen Meister des romantisch­en Klavierspi­els wie Yefim Bronfman, der Beethovens Viertes in der nämlichen analytisch­en Weise durchleuch­tet und vom Forte bis ins behutsamst­e Pianissimo die Stimmen schön und kräftig tönen lässt: Leise zu spielen heißt nicht, die musikalisc­hen Linien inkonsiste­nt werden zu lassen. So verhilft man Beethovens Kontrapunk­tik auch dort, wo sie sonst im Pedalnebel leicht verloren geht, ans Licht.

In Wahrheit verhält es sich hier wie bei Prokofieff: Der Spieltradi­tion gebricht es an Deutlichke­it. Sie bringen Bronfman wie Jansons in Hülle und Fülle ein. Und plötzlich werden die Klänge in ihrer Aussagekra­ft greifbar. An Zerberus’ und Orpheus’ Gesang im Zentrum des Beethoven-Konzerts zu denken scheint nicht mehr abstrus – und wenn im „stalinisti­schen“Siegestaum­el Prokofieff­s plötzlich alle Sicherunge­n durchbrenn­en, die Musik wie irr weiterläuf­t . . .

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