Die Nachrufe auf Angela Merkel waren verfrüht
Mit der SPD an ihrer Seite wird sich die Kanzlerin nicht gegen die EU-Zentralisierungswünsche aus Paris und Brüssel wehren.
Die Ära Merkel geht zu Ende, und das ist auch gut so“, schrieb einer der erbittertsten Gegner der Kanzlerin, der linke Politologe Wolfgang Streeck ausgerechnet in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“. Das ist jenes Blatt, in dem Angela Merkel seinerzeit in einem großen Artikel Helmut Kohl zum Rücktritt aufgefordert und damit dessen politisches Ende besiegelt hat. Streeck verfasste nun sogar schon einen „Rückblick“auf Merkel. Am anderen Ende des politischen Spektrums sagt der Fraktionschef der AfD im Bundestag, Alexander Gauland: „Ihre Zeit ist abgelaufen.“
Das war voreilig. Dass mit dem Scheitern der Jamaika-Koalition „der Anfang vom Ende“der Langzeitkanzlerin eingeläutet wurde, schien den Kommentatoren noch vor einigen Tagen als ausgemacht. Nun stellt sich heraus, dass es so schnell nichts wird mit dem Ende der Ära Merkel. Die SPD besann sich darauf, wieder regieren zu wollen. Die vollmundigen Ankün- digungen ihres Vorsitzenden, Martin Schulz, nach der verlorenen Wahl, nun werde sich die Partei in der Opposition neu erfinden, sind schon wieder vergessen. Es lockt die nahegerückte Macht.
Die SPD ist unverhofft in die Rolle des einzigen Mehrheitsbe- schaffers für eine Regierung geraten und scheint entschlossen, sich die Gelegenheit, Merkel damit zu erpressen, nicht entgehen zu lassen. Immer mehr SPD-Politiker stellen bereits inhaltliche Bedingungen für eine Koalition mit der Union. Ganz oben auf der Wunschliste der Sozialdemokraten stehen eine „Bürgerversicherung“, die Zusammenführung öffentlicher und privater Krankenversi- cherungen, ein „Kurswechsel“in der Steuerpolitik – also höhere Steuern für die „Reichen“und oberen Einkommenklassen – sowie eine Erhöhung der Pensionen.
Merkel bleibt damit die unerfreuliche Entscheidung zwischen Neuwahlen und einer Minderheitsregierung erspart. Sie ist wieder in ihrem Element und kann dort fortsetzen, wo sie vor ein paar Wochen aufgehört hat. Die Akteure von der SPD kennt sie, und sie wird keine Schwierigkeiten haben, auf deren Wünsche einzugehen; so wie sie bei den Jamaika-Verhandlungen auf die der Grünen einging – und die FDP auf die Seite schob. Diese bei der Stange zu halten war ihr sichtlich kein Anliegen.
Die Schmerzgrenzen in ihrer eigenen Partei gegen Konzessionen an die SPD hat Merkel im Laufe der Jahre sukzessive herabgesetzt. Mit der politischen Verschiebung in die linke Mitte hat die CDU allerdings einen hohen Preis bezahlt und einen Teil ihrer angestammten rechtskonservati-
ven Wählerschaft an die AfD verloren. Dass die Bundestagswahlen vom 24. September eigentlich eine klare Mehrheit rechts von der Mitte erbracht haben, wird keine Rolle mehr spielen, da die Neuauflage der Großen Koalition nun – nach einem bekannten Merkel-Diktum – „alternativlos“geworden ist.
Unüberbrückbare Differenzen
Nicht an vorderster Stelle auf der Liste der unabdingbaren „Bedingungen“der SPD steht die Europapolitik. Aber es ist klar, dass sie nun weiter darauf drängen wird, die EU zu einer Sozialunion umzuwandeln, was nie im Sinne der Gründer der Gemeinschaft gewesen ist. Merkel war jedenfalls mit von der Partie, als Jean-Claude Juncker dieses sein Lieblingsprojekt kürzlich von den Regierungschefs in Göteborg in einem Katalog „sozialer Rechte“absegnen ließ.
Was wirklich damit gemeint ist, hat ein SPD-Ideologe unfreiwillig offengelegt, als er die Einführung eines europaweiten Mindestlohns verlangte. Dessen Zweck ist es, die westeuropäische Wirtschaft vor der Konkurrenz aus EU-Osteuropa zu schützen und den westlichen Ländern die Reform ihrer Sozialsysteme zu ersparen.
Die Jamaika-Koalition hätte im Grunde unvereinbare politische Weltanschauungen vereinbaren sollen und ist deshalb gescheitert. Zwischen den Grünen und der FDP gab es in allen entscheidenden Fragen, von der Klimapolitik bis zur Eindämmung der Migration und der Europapolitik, unüberbrückbare Differenzen.
Dass Christian Lindner den aussichtslosen Versuch schließlich beendet hat, war kein frivoles Machtspiel, wie ihm unterstellt wird, sondern die Konsequenz aus der Einsicht in diese Fakten. Nebenbei war es ein Akt der Selbstachtung für ihn und seine Partei, nachdem er Zeuge geworden war, dass Merkel bei den Verhandlungen eine deutliche Vorliebe für die Grünen gezeigt hatte.
Aufatmen in Paris und Brüssel
Zur größten Sorge des französischen Präsidenten, Emmanuel Macron, und wohl auch Junckers im Blick auf Deutschland gehörte eine Regierungsbeteiligung der FDP. Sie beide können nun erleichtert aufatmen. In der deutschen Regierung wird es niemanden geben, der wie Lindner formulieren würde: „Unser Anliegen ist die finanzpolitische Eigenverantwortung der Mitglieder der Währungsunion. Wir wollen das Haftungsprinzip stärken, die Maastrichtregeln anwenden und bei der Staatsfinanzierung zur Marktwirtschaft zurückkehren.“
In einer Jamaika-Koalition hätte die FDP allenfalls den Fortbestand des europäischen Stabilitätsmechanismus akzeptiert, nicht aber eine Reform, die zusätzliche Hilfen für Länder wie Italien oder Griechenland ohne harte Auflagen ermöglicht. Im Wahlprogramm der SPD dagegen steht: „Wir wollen insbesondere dort, wo wir mit dem Euro eine gemeinsame Währung haben, ein gemeinsames Finanzbudget schaffen.“
Das ist bekanntlich der Kern der Reformvorstellungen Macrons für die EU: Die Schaffung einer „Wirtschaftsregierung“für die Eurozone mit eigenem Budget. Ein neuer „Eurokommissar“sollte die Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitik der Euroländer koordinieren. Das wäre ein weiterer Schritt hin zu noch mehr Brüsseler Zentralismus und einer Staatlichkeit der EU, die das sichere Rezept für ihr Zerbrechen wäre.
Deutschland soll weg vom Gas
Macron leugnet gar nicht, dass es auf eine Transferunion hinausläuft: „Falls die Mitgliedstaaten zu keiner Form von Finanztransfer in der Währungsunion bereit sind, können wir den Euro und die Eurozone vergessen.“Eine Währungsunion ohne Finanzausgleich könne es nicht geben: „Die Starken (damit sind natürlich die Deutschen und alle anderen einigermaßen solide wirtschaftenden Mitglieder der Eurozone gemeint) müssen helfen.“
In Macrons Repertoire kommt natürlich auch das alte Allheilmittel vor: Deutschland solle seine Leistungsfähigkeit als Exportland zurücknehmen. Als ob sich dadurch auch nur ein einziges französisches oder italienisches Auto im Ausland leichter verkaufen ließe! Es ist nicht sehr vertrauenerweckend, wenn der künftige Präsident der immerhin zweitstärksten Wirtschaft Europas sich die eigene Stärkung nur von der Schwächung des Konkurrenten erwartet.
Bisher hat sich Merkel um eine deutsche Reaktion auf Macrons Vorstellungen gedrückt. Mit der SPD an der Seite wird sie es schwer haben, sich dagegen zu wehren. Sozialdemokraten haben immer eine Schwäche für zentralistische Strukturen und staatliche oder Investitionen aus Brüssel. Merkels Bilanz an großen europapolitischen Entscheidungen ist jedenfalls nicht sehr ermutigend.