So klingt das Matriarchat
Pop. Björk hat die ihrer Trennung von Matthew Barney folgende Depression eindrucksvoll abgeschüttelt: Auf ihrem neunten Album „Utopia“lockt sie in ein Elysium, singt Loblieder an Enthusiasmus und Optimismus.
Björk lockt auf ihrem neunten Al\um in ein Elysium.
Flötenallergiker seien gewarnt. An manchen Stellen des neuen Björk-Albums ertönen bis zu zwölf gelochte Holzstangerl gleichzeitig. Nie um originelle Zugänge verlegen, kontaktierte die Isländerin diesmal ein weibliches Amateurensemble zur Verstärkung. Bestehend aus Hausfrauen und Ausübenden „ehrlicher“Berufe, kommen diese Damen normalerweise wöchentlich an ihren „Flute Fridays“zusammen. Mit Björk hatten sie auf einmal mehr zu tun. Da wurden allerlei Kirchen Reykjav´ıks besucht, um herauszufinden, wo Flöten am erhabensten klingen. Versteht sich, dass Björk zu diesem Zweck auch ihre eigene Flöte nach vielen Jahren im Etui wieder auspackte.
Gemeinsam wagte man den Aufbruch von der Erdenschwere. „Utopia“, Björks neuntes Album, überrascht mit einer Luftigkeit, mit der man nach „Vulnicura“nicht mehr rechnen konnte. Dieses harsche Vorgängeralbum behandelte schließlich Björks Trennung von ihrem langjährigen Lebensgefährten, dem Künstler Matthew Barney. Und das klang erdenschwer. Gegen den Protagonisten des Songs „Stonemilker“wirkt selbst Sisyphus wie ein Luftikus.
Steine werden keine mehr gemolken in den neuen Liedern. Sie zeigen eindrucksvoll, dass es ein Leben nach der Depression geben kann. Kein moderates freilich. Das wäre für eine Künstlerin von der Statur Björks zu gewöhnlich. Sie irrlichterte ja immer schon recht ungezügelt zwischen Manie und Melancholie hin und her. Ihr neues Album nennt sie nun „einen Liebesbrief an Enthusiasmus und Optimismus“. Sie projiziert ihr individuelles Aufbruchsgefühl gleich auf die ganze Welt: „Wenn Optimismus jemals ein Notfall war, dann ist er es jetzt“, sagt sie in Hinblick auf die Wahl von Donald Trump zum US-Präsidenten. „Statt zu klagen oder zornig zu werden, müssen wir nun Vorschläge entwickeln, wie wir unsere Welt haben wollen. ,Utopia‘ ist so ein Vorschlag.“
Suche nach Utopien
Wie für alle ihre Alben bereitete sich Björk auch diesmal durch Lektüre vor. Sie las Studien und Geschichten zum Thema Utopie, etwa von der afroamerikanischen ScienceFiction-Autorin Octavia E. Butler. Sie sammelte eifrig Ideen aus religiösem, sozialistischem und feministischem Kontext, die „Nichtorte“betreffen, das also, was Utopien beschreiben. Besonders ansprechend fand Björk die Fabel „The Peach Blossom Spring“, die ein gewisser Tao Yuanming im Jahr 451 aufgezeichnet hat. Sie erzählt von Rebellen gegen die Qin-Dynastie, die sich an einem verborgenen Ort ein Idyll schufen.
Die Quintessenz ihrer Leseexkursion fasst Björk im Titelsong schlicht so: „Utopia, it’s not elsewhere, it’s here.“Neben Flöten zirpen in diesem kammermusikalischen Stück nur ausgesuchte Vögel. Alle stammen sie aus Venezuela – zu Ehren von Björks eine Generation jüngerem musikalischen Mitstreiter Arca. Der heißt mit Klarnamen Alejandro Ghersi und verfügt über reichlich Erfahrung im Zwischenreich von digitalen und natürlichen Soundquellen. Dass er auch schon mit Rapper Kanye West gearbeitet hat, schadete nicht. Noch wichtiger war aber, dass er mit der Musik von Björk aufgewach- sen ist und sie teilweise besser kennt als ihre eigentliche Schöpferin. Arca lenkte Björks Aufmerksamkeit auf wenig beachtete Instrumentals aus der Vergangenheit. Ausgehend von diesen Stücken – mit Namen wie „Ambergris March“und „Batabid“– erarbeitete das Duo einen aufregend ätherischen Sound. Der klammert sich weder an Beats noch an formelle Strukturen. Die frei flottierenden Texturen sind auf andere, nicht minder radikale Weise genauso radiofeindlich und clubuntauglich wie die Lieder von „Vulnicura“.
Die Wunde am Brustbein
Das Glückhafte an dieser harmonischen Verschränkung von Kammermusik und elektronischem Experiment liegt gerade darin, dass sie intensives Zuhören fordert. An manchen Stellen wird es sogar fast mystisch. Im stillen, mit Echos und Hall ringenden „The Gate“etwa: „My healed chestwound transformed into a gate, where I receive love from, where I give love from“, singt Björk. Die Wunde am Brustbein, die sie beinah stolz am Cover ihres letzten Albums zeigte, hat sich nun also in ein eigenständiges Liebesorgan verwandelt.
Ein anderer Schlüsselsong, „Body Memory“, legt nahe, dass Björk an Reinkarnation glaubt. „Will I accept my death or struggle claustrophobic?“, fragt sie, um dann, umrahmt von brummelnden Männerchören a` la Arvo Pärt, das Denken durch die Weisheit des Körpers zu erlösen: „Then the body memory kicks in, my limbs and tongue over.“Sogar das Dunkel der Selbstauflösung im Tod wird hier als etwas Lichtvolles präsentiert. Im neckisch mit der Stille ringenden Schlusssong „Future Forever“entwirft Björk ein seligmachendes Matriarchat, in dem die Lasten der Vergangenheit anstrengungslos entsorgt werden können. „Your past is a loop – turn it off“, haucht sie. Zu schön, um wahr zu sein?