„Wir haben die Pflicht, Migranten zu schützen“
Der Präsident des Niger, Mahamadou Issoufou, sieht in den Sklavenmärkten von Libyen einen Fall für den Haager Strafgerichtshof. Ohne Armutsbekämpfung sei der Migration ebenso wenig beizukommen wie dem Terrorismus.
Die Presse: Die Bilder vom Sklavenmarkt in Libyen gingen kürzlich um die Welt. Sie waren der erste afrikanische Staatsmann, der darauf scharf reagierte. Wie wird die unzumutbare Situation der Migranten in Libyen das Gipfeltreffen der Afrikanischen Union und der EU bestimmen? Mahamadou Issoufou: Die Berichte über den Verkauf von Migranten schockierten mich und die gesamte afrikanische Öffentlichkeit. Denn man dachte, diese Zeiten gehörten längst der Vergangenheit an. Selbstverständlich wird Libyen den Gipfel beeinflussen. Das Treffen ist auf die Jugend fokussiert. Es ist die Jugend, die nach Europa emigriert und Opfer dieser Abscheulichkeiten wird. Es sind Verbrechen gegen die Menschlichkeit und sollten vom Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag untersucht werden.
War es nicht längst bekannt, dass Migranten in Libyen unmenschlich behandelt werden? Das mag schon sein. Aber dass Mi- granten in dieser Art als Sklaven verkauft werden – das haben wir so noch nicht beobachtet. Was in Libyen passiert, ist kein Zufall. Das Land ist ein sogenannter „failed state“. Es gibt keine funktionierende Regierung. So konnte dieses schreckliche Phänomen heranwachsen.
Lange Jahre konnten Migranten auf dem Weg nach Europa ungehindert durch Niger reisen. Seit 2015 ist das jedoch per Gesetz verboten. Die Zahlen sanken dramatisch, Europa ist happy. Sind sie auch rundum zufrieden? Wir haben einen großen Erfolg erzielt. Früher waren es mehr als hunderttausend Menschen pro Jahr, die Niger als Transitland benutzten. Heute sind es weniger als 20.000. Wir machen das nicht wegen Europa. Wir haben eine ethische Pflicht, afrikanische Migranten zu beschützen. Es darf nicht sein, dass sie in der Wüste oder im Meer sterben. Daneben existieren auch Sicherheitsinteressen. Denn auf dem Rückwegweg von Libyen nach Niger transportieren Menschenhändler Waffen.
Alleine durch ein Verbot wird das Phänomen Migration jedoch nicht verschwinden. Da haben Sie Recht. Eine wichtige Komponente ist Entwicklung. Wir müssen uns fragen, warum Menschen auswandern und diese Ursachen bekämpfen. Dazu braucht es Entwicklungsprojekte, die Alternativen zur Migration bieten.
Beim Besuch der deutschen Kanzlerin Merkel vor einem Jahr forderten Sie einen „Marshall Plan“. Aber mit normaler Entwicklungshilfe dürfte ein solcher Plan wenig zu tun zu haben. Lassen Sie mich an die Ziele der UNO für nachhaltige Entwicklung erinnern. Dort werden 600 Milliarden Dollar pro Jahr als notwendige Unterstützung für eine Weiterentwicklung Afrikas ausgewiesen. Die gegenwärtige Hilfe beträgt 15 Milliarden Dollar. Wir sind also weit davon entfernt, die tatsächlich benötigten Investmenthilfen zu erhalten. Ein Marshall Plan über 600 Milliarden könnte leicht finanziert werden, wenn sich die entwickelten Länder an die Investmentstudie aus den 1970er-Jahren halten würden, die eine Hilfe in Höhe von nur 0,7 Prozent des Bruttoinlandsprodukts vorsieht. Das ist nicht belastend und könnte Afrika die nötigen Ressourcen ermöglichen.
Migranten aus ganz Afrika waren eine wichtige Einnahmequelle für Niger. Damit ist es vorbei. Besonders betroffen ist Agadez, das Tor für Migranten nach Libyen. In der Stadt mussten Geschäfte und Tankstellen schließen. Deshalb bieten wir im Rahmen des Kampfes gegen illegale Migration alternative Projekte an. Sie werden von der EU finanziert, sind aber leider nicht ausreichend.
Was muss die EU noch tun? Die EU macht bereits sehr viel. 600 Millionen Euro sind zur Verfügung gestellt worden, wobei das natürlich lange nicht genug ist. Deshalb findet eine Geberkonferenz am 13. und 14. Dezember in Paris statt. Dort soll die Finanzierung eines so- zialen Entwicklungsplans für Niger zustande kommen. Von der EU und anderen Sponsoren werden zwischen 12 bis 15 Milliarden Euro über vier Jahre benötigt.
Was beinhaltet dieser neue Plan? Die Prioritäten liegen auf der Konsolidierung demokratischer Institutionen und Infrastruktur. Wir brauchen Straßen und Eisenbahnen, Energiestrukturen, Telekommunikation. Die Landwirtschaft muss entwickelt werden, damit Niger sich selbst ernähren kann. Und Bildung – Jugendliche brauchen Zukunftsaussichten.
In den vergangenen Wochen und Monaten gab es Angriffe von radikalen Islamisten auf US-Truppen und die Gendarmerie in Niger. Attentate wurden auch in den Nachbarländern Nigeria, Mali und Burkina Faso verübt. Der Jihadismus scheint sich in Westafrika auszubreiten. Diese aktuellen Angriffe kamen über die Grenze von Mali. Wir haben zudem Probleme am TschadSee mit Boko Haram und die seit Jahren bestehenden Bedrohungen an der Grenze zu Libyen. Diese beiden Fronten geben uns allerdings keinen so großen Anlass zur Sorge wie Mali. Dort müssen wir entschieden eingreifen.
Die USA bauen eine große Luftwaffenbasis in der Nähe von Agadez. Viele der Bewohner sehen das nicht gerne, da von der neuen Startbahn auch bewaffnete Drohnen aufsteigen sollen. Wir haben eine enges Verhältnis zu Frankreich und Amerika. Die Kapazitäten unseres Militärs sind mit der Terrorbedrohung völlig überlastet. Die Menschen müssen verstehen: Es blieb uns nichts anderes übrig, als die Hilfe der befreundeten Nationen anzunehmen. Zumal der Terror ja nicht eine regionale Bedrohung, sondern ein weltweites Problem ist.
Jihadismus und Migration – sind das zwei voneinander getrennte Probleme? Beide sind miteinander verbunden. Armut ist eine der Ursachen für Terrorismus. Armut treibt Menschen auch in die Migration. Wenn wir also Armut richtig bekämpfen, schlagen wir zwei Fliegen mit einer Klappe. Aber es ist eine komplexes Geflecht von Problemen. Nehmen wir den Klimawandel, der eine Ursache der Armut ist. Der TschadSee trocknet aus, die Ressourcen für die Bevölkerung schwinden. So kann Boko Haram dort Mitglieder rekrutieren. Klimawandel, Armut, Migration und Terrorismus sind miteinander verwoben.