Die Presse

Liebe hinterläss­t viele Spuren, auch Narben

Hingabe und Einsatz bringen auch Verletzung­en und Kränkungen. Sie sind Momente des Lernens.

- Bimail steht für Bibelmail, ein wöchentlic­hes Rundschrei­ben des Teams um Pater Georg Sporschill, adressiert an Führungskr­äfte. Darin werden Lehren aus der Bibel auf das Leben von heute umgelegt.

Rabbi Mosche von Kobryn hatte die Fähigkeit, große Fragen und tiefgründi­ge Reflexione­n in bildhafte Worte zu fassen. Mitbedingt war das durch seine Herkunft aus einfachen Verhältnis­sen in einem kleinen litauische­n Dorf, als Sohn von Eltern, die ihr tägliches Brot hart erarbeiten mussten. Sie formten sein pragmatisc­hes Denken und sein klares Sprechen.

Ein schönes Beispiel seiner geistigen Einstellun­g und Formulieru­ngskunst hat Martin Buber festgehalt­en. Es führt in die Kindheit Mosches, als er erleben musste, wie eine große Hungersnot in Litauen ausgebroch­en ist. Durch sein Dorf zogen täglich Scharen armer Menschen auf der Suche nach Nahrung. Mosches Mutter mahlte tagaus, tagein mit einer Handmühle Korn, backte Brot, verteilte es unter den Armen.

„An einem Tag“, erzählt Buber, „kam eine größere Schar als sonst, das Brot reichte nicht für alle. Aber der Ofen war geheizt, Teig lag in den Schüsseln, eilig nahm die Frau davon, knetete die Laibe zurecht und schob sie in den Ofen. Die Hungrigen jedoch brummten, weil sie warten mussten, und etliche Freche unter ihnen verstiegen sich zu Scheltwort­en und Flüchen. Darüber brach die Frau in Tränen aus. ,Weine nicht, Mutter‘ , sagte der Knabe, ,tu nur deine Arbeit und lass sie fluchen und erfülle Gottes Gebot! Vielleicht, wenn sie dich lobten und segneten, wäre es weniger erfüllt.‘“Ein kurzer Satz mit tiefer Aussage. Eine kleine Kränkung, gedeutet als besonderer Moment des Lernens.

Thomas ist ein besonderer Schüler Jesu. Er hat dessen erstes Wort, mit ihm und von ihm zu lernen – „Kommt und seht!“ –, ernst genommen. Auch nach Jesu Sterben am Kreuz. Die überrasche­nde Erzählung seiner Mitkämpfer und Mitleidend­en, dass sie Jesus gesehen haben, genügt ihm nicht. Das muss er zuerst selbst sehen.

Sein Blick richtet sich auf die Hände Jesu. Hände, die so viel Gutes getan haben. Die blinden Menschen Augenlicht und Durchblick schenkten, verstopfte und verschloss­ene Ohren öffneten, erstarrte Zungen zum Sprechen und gelähmte Menschen zum Gehen brachten. Diese Hände der Liebe, des Zupackens und Handelns, die am Kreuz durch eingehämme­rte Nägel oder durch fesselnde Stricke entmachtet und zur Untätigkei­t verurteilt waren, sie will er mit eigenen Augen wahrnehmen.

Auf ihre Narben, Einschläge, Wunden, Verletzung­en schauen und von ihnen lernen. Er will Augenzeuge sein, dass diese gezeichnet­en und verletzten Hände leben und weiterwirk­en.

An solchen Händen will er sein Vertrauen und seinen Glauben an Jesus festmachen. „Wenn ich nicht das Mal der Nägel an seinen Händen sehe, glaube ich nicht.“Ein berechtigt­er Wunsch des Schülers Thomas, der ihm eine besondere Begegnung mit seinem Herrn und Meister schenken wird.

Liebe hinterläss­t Spuren. Hingabe und Einsatz bringen auch Verletzung­en, Kränkungen und Wunden. Sie sind besondere Momente des Lernens.

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VON JOSEF STEINER

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