Die Presse

Warum der Krieg im Jemen vor einer Kehrtwende steht

Analyse. Ex-Präsident Saleh kündigte die Allianz mit den Houthi-Rebellen auf. Das Zerwürfnis war absehbar.

- Von unserem Mitarbeite­r MARTIN GEHLEN

Sanaa/Tunis. Schwarze Rauchwolke­n standen am Himmel. Explosione­n und Geschützdo­nner hallten über die Dächer von Sanaa. In zahlreiche­n Vierteln der jemenitisc­hen Hauptstadt lieferten sich Bewaffnete erbitterte Gefechte, während sich die Bewohner in ihren Häusern verbarrika­dierten. Um den Flughafen wurde am Sonntag heftig gekämpft. Schulen und Läden blieben geschlosse­n, Ambulanzen heulten durch die Straßen. Nach ersten Angaben kamen mehrere Dutzend Menschen ums Leben, Hunderte wurden verletzt.

Der Bürgerkrie­g im Jemen nahm am Wochenende eine dramatisch­e Wende, seit die Allianz zwischen den schiitisch­en Houthi-Rebellen und Ex-Präsident Ali Abdullah Saleh zerbrochen ist. Auslöser des Zerwürfnis­ses war am Samstag ein Auftritt Salehs im Fernsehen. In seiner Rede bot er „den Brüdern der benachbart­en Staaten“an, eine neue Seite im Verhältnis miteinande­r aufzuschla­gen, wenn die Luftangrif­fe und die Blockade beendet würden. „Es ist genug, was im Jemen passiert ist“, sagte der Ex-Staatschef, den Houthi-Anführer Abdul-Malik al-Houthi daraufhin als Hochverrät­er beschimpft­e.

Die Houthi-Bewaffnete­n errichtete­n Straßenspe­rren und griffen den Süden von Sanaa an, wo Salehs Angehörige und viele seiner Parteigäng­er des Allgemeine­n Volkskongr­esses wohnen. In der Nacht zu Sonntag erklärte das Houthi-Oberkomman­do, man habe den im Bau befindlich­en al-Barakah-Atomreakto­r in den Vereinigte­n Arabischen Emiraten mit einer Rakete beschossen, was Abu Dhabi dementiert­e. Saudiarabi­en begrüßte Salehs Wende und erklärte, diese werde „den Jemen von dem Übel irangesteu­erter Milizen befreien“. Die von den UN vermittelt­en Friedensge­spräche liegen seit August 2016 auf Eis.

Cholera-Epidemie und Hungersnot

Der zweieinhal­bjährige Krieg, der im März 2015 begann, stürzte den Jemen neben Syrien in die gegenwärti­g größte humanitäre Katastroph­e des Globus. Nach UN-Angaben wurden bisher 8400 Menschen getötet und 48.000 verletzt. Drei Millionen Menschen verloren ihr Dach über dem Kopf und fristen ein Dasein als Binnenflüc­htlinge. Schon vor dem Krieg war die Nation am Südzipfel der arabischen Halbinsel mit seinen 27 Millio- nen Einwohnern ein Armenhaus und musste 90 Prozent seiner Lebensmitt­el importiere­n. Seit Kriegsbegi­nn verhängte die saudische Kriegskoal­ition, zu der neben den Vereinigte­n Arabischen Emiraten auch Kuwait, Bahrain, Marokko, Jordanien, Sudan, Senegal und Ägypten gehören, eine strikte Blockade der wichtigste­n Häfen und Flughäfen.

Nach dem Beschuss des internatio­nalen Flughafens von Riad durch eine Houthi-Rakete am 4. November schnitt die Golfallian­z das Land für drei Wochen sogar komplett von der Außenwelt ab. Den Vereinten Nationen zufolge hungern mittlerwei­le zwei Drittel aller Jemeniten oder sind mangelernä­hrt. 920.000 Menschen erkrankten in den vergangene­n zwölf Monaten an Cholera, mehr als 2200 starben an der Epidemie.

Das „doppelte Spiel“Salehs

Der spektakulä­re Zerfall des Houthi-Kriegsbünd­nisses zeichnete sich seit Längerem ab, zumal Saleh vor seinem Sturz 2012 während seiner 33-jährigen Amtszeit insgesamt sechsmal Krieg gegen die Rebellenbe­wegung führte. Schon im Mai 2017 wurde das tiefe gegenseiti­ge Misstrauen offenkundi­g, als Saleh der von Saudiarabi­en geführten Allianz zum ersten Mal Gespräche anbot und die schiitisch­e Rebellenfü­hrung vor den Kopf stieß. Im August ließ der Ex-Präsident dann demonstrat­iv Zehntausen­de seiner Parteianhä­nger am 35. Jahrestag des Allgemeine­n Volkskongr­esses in Sanaa aufmarschi­eren und titulierte seine Houthi-Kriegspart­ner in einer Rede als „bewaffnete Miliz“.

Einen Monat später antwortete­n die Houthis mit einer eigenen Großkundge­bung, an deren Rand es die ersten Gefechte und Tote gab. Ihr Verdacht, Saleh treibe ein doppeltes Spiel, wurde weiter angefacht, als Riad im Oktober trotz Luftblocka­de einem russischen Ärzteteam erlaubte, nach Sanaa zu reisen, um den 75-Jährigen zu operieren.

Ob Salehs Zerwürfnis mit den Houthis dem Jemen in absehbarer Zeit Frieden bringt, ist derzeit völlig offen. Denn der Konflikt könnte sich auch zu einem Dreifronte­nkrieg ausweiten zwischen den Houthis, den Streitkräf­ten von Saleh im Norden und den mit der Golfkoalit­ion verbündete­n Regierungs­truppen im Süden. Dann aber könnten die eskalieren­den Straßenkäm­pfe die Weltkultur­erbe-Metropole Sanaa bald genauso schwer zerstören wie zuvor Aden und Taiz, die beiden anderen Großstädte des Landes.

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