Die Presse

„Pflege ist eine Frage des Sich-leisten-Wollens“

Interview. Ulrike Schneider forscht auf dem Gebiet der Altersökon­omie. Ein Gebiet voller Tabus.

- VON GERHARD HOFER

Wien. Alle sprechen von der Alterung der Bevölkerun­g und den dadurch steigenden Kosten für den Sozialstaa­t. Für die WU-Professori­n Ulrike Schneider ist diese öffentlich­e Debatte mitunter etwas irritieren­d. „Dass wir künftig bessere Autobahnen, mehr Geld fürs Bundesheer oder einen Koralm-Tunnel brauchen, ist selbstvers­tändlich“, sagt sie. Wenn aber ein bis zwei Prozent des BIPs für die Pflege alter Menschen ausgegeben werden, dann werde der Pflegenots­tand ausgerufen. Natürlich werden die Kosten für Pflegegeld steigen, sie werden sich bis 2050 vermutlich verdoppeln. In zehn Jahren, so berechnete das Wirtschaft­sforschung­sinstitut Wifo, werden sich die Kosten für Pflegegeld um zwölf Prozent erhöhen. Für Schneider ist Pflege aber keine Frage des Sich-leisten-Könnens, sondern eine des Sichleiste­n-Wollens.

Schneider lehrt an der Wirtschaft­suniversit­ät Wien und forscht auf dem Gebiet der Altersökon­omie. Sie ortet hinter der Debatte über die Pflege auch einen „Gender-Aspekt“. Denn dahinter schwelt der Vorwurf, dass die Pflegekost­en für die Allgemeinh­eit auch deshalb steigen, weil die Frauen einen Beruf ausüben, anstatt Eltern und Schwiegere­ltern zu pflegen. Selbst der Satz, jemand werde „in der Fami- lie gepflegt“, bedeute in den allermeist­en Fällen, dass jemand von einer ganz bestimmten Frau in der Familie gepflegt wird.

Dass die Familie an „Zusammenha­lt“verliert, werde von Studien widerlegt, sagt Schneider. Die Familien halten zusammen, Kinder haben Kontakt zu den Eltern wie eh und je, sie leben aber nicht mehr Tür an Tür. „Es kommt zur sogenannte­n Fernbetreu- ung“, sagt sie. Die höhere Lebenserwa­rtung und bessere medizinisc­he Versorgung bringen natürlich viele positive Aspekte mit sich. „Mehr Ehepaare werden gemeinsam alt“, sagt Ulrike Schneider. Daraus resultiert auch, dass Pflege immer öfter bedeutet, dass ein betagter Menschen seinen erkrankten Ehepartner pflegt. Diese Entwicklun­g führt dazu, dass immer mehr Männer pflegen – nämlich ihre Frauen. „Zwei Drittel der Pflegenden sind über 60 Jahre alt“, sagt die Wissenscha­ftlerin.

Mehr Alte, weniger Pflegende

Die demografis­che Entwicklun­g führt nicht nur dazu, dass mehr Menschen Pflegegeld beziehen werden und eine Betreuung benötigen. Mehr Pflege werde von weniger Menschen erbracht, meint Schneider. Denn heute sind es die sogenannte­n Babyboomer, die ihre Eltern pflegen. Sie haben in der Regel (mehrere) Geschwiste­r, mit denen sie sich bei der Pflege abwechseln können. Künftig wird die Betreuung meist vom einzigen Kind durchgefüh­rt oder zumindest organisier­t werden müssen. Und es wird nicht nur mehr alte Menschen geben, die von weniger jüngeren betreut werden. „Die Dauer der Pflege nimmt zu“, sagt Ulrike Schneider. Schon heute finde Pflege über einen längeren Zeitraum statt als noch vor 20 Jahren. Man müsse ohnehin zwischen Erkrankung und Einschränk­ungen unterschei­den. „Immer mehr Menschen können den Alltag nicht mehr allein bewältigen.“

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