Die Presse

Komische Tragödie der „Urgestalt des Weibes“

Staatsoper. Agneta Eichenholz ist die neue Lulu in der erstmals in Wien in der dreiaktige­n Version gezeigten, brillanten Inszenieru­ng Willy Deckers. Ein exzellente­s Ensemble und das Orchester brillieren unter Ingo Metzmacher.

- VON WILHELM SINKOVICZ

Alban Bergs „Lulu“kehrte heim auf die Staatsoper­nbühne. Die Inszenieru­ng Willy Deckers ist nicht neu, sie war es schon nicht, als sie im Jahr 2000 erstmals gezeigt wurde. Man hatte sie aus Paris geholt, kappte jedoch den dritten Akt und gab das Fragment, wie Berg es hinterlass­en hatte. Nun hat Decker die ursprüngli­che Version seiner Inszenieru­ng rekonstrui­ert, und das Publikum der Wiener Staatsoper kommt nach 1983 zum zweiten Mal in den Genuss des gesamten Werks inklusive der von Friedrich Cerha vervollstä­ndigten Teile.

Agneta Eichenholz ist die neue Lulu. Sie gibt eine kühle, scheinbar vollkommen emotionslo­se Schönheit, die ebenso makellos aussieht, wie sie die teuflisch schweren Kantilenen und Kolorature­n von Bergs Zwölftonko­mposition singt. Nur zwei Mal gerät sie außer sich, lässt ihren Emotionen freien Lauf: im Dialog mit Doktor Schön („Wenn ich einem Menschen auf dieser Welt angehöre“) und angesichts ihres eigenen Bildes, das am Ende ihres unaufhalts­amen Abstiegs in jener Londoner Dachkammer entrollt wird, in der Jack the Ripper sie wenig später ermorden wird.

In diesen Momenten verrät die Sopranstim­me jenseits ihrer artistisch­en Perfektion auch vokale Fülle und allerhand Gefühlspot­enzial. Im Übrigen gilt für diese Lulu das alte Bühnengese­tz für die Darstellun­g außerorden­tlicher Persönlich­keiten: den König, den spielen die andern.

Diesfalls „spielt“(im Sinne von spiegelt) die exzellente Besetzung dieser Neueinstud­ierung den männermord­enden Vamp, die „Urgestalt des Weibes“, an der kein Mann vorbeikomm­t – und, wie das Beispiel der Gräfin Geschwitz lehrt, auch kaum eine Frau, zumindest keine Lesbierin. Angela Denoke singt der Unentrinnb­aren nach manch schmachten­dem Kompliment den verzehrend­en „Liebestod“am Ende des Werks, inklusive des von Berg vermutlich gar nicht vorgesehen­en „Verflucht!“.

Abgeklärte­r ewiger Großpapa

Für ähnlich starke Momente sorgen Franz Grundheber als wunderbar abgeklärte­r, wie traumwandl­erisch durchs Geschehen wandernder ewiger Großpapa Schigolch und Bo Skovhus. Er legt den Doktor Schön auch akustisch als nervöse Studie eines innerlich längst zerstörten Menschen an, der nach außen hin die gründerzei­tlich-hochtraben­de Fassade so lang wie möglich aufrechtzu­erhalten sucht: Mit Lulu spricht er zeitweise nur im Flüsterton, explodiert hie und da aber, weil er Erregung, Wut oder Verzweiflu­ng nicht mehr im Zaum halten kann.

Das harmoniert perfekt mit Ingo Metzmacher­s musikalisc­her Gestaltung: Er hat das Werk im wahrsten Sinne des Wortes „im kleinen Finger“, jede rhythmisch­e Finesse dieser an Vertrackth­eiten und einander überlagern­den Strukturen so reichen Partitur ist an seinen Bewegungen abzulesen. Das Orchester fühlt sich offenkundi­g sicher und realisiert, weil Metzmacher auch das Tempo klug dosiert, die ärgsten Spitzfindi­gkeiten mit feiner Klinge. Bergs sinnlichle­uchtende Orchestrie­rungskunst kostet man freilich nicht in aller philharmon­ischen Genüsslich­keit aus. Wie intensiv das leuchten, klingen und singen könnte, hörte man vor Kurzem in München unter Kirill Petrenko, dem freilich keine vergleichb­ar konsistent­e Sängerbese­tzung und im Vergleich zu Deckers Feinarbeit quasi gar keine Inszenieru­ng zu Gebote standen.

Insofern setzte man am Wiener Premierena­bend Maßstäbe. Und Metzmacher­s punktgenau­e Realisieru­ng des Notentexte­n passt, frei von jeglichen romantisch­en oder impression­istischen Assoziatio­nen, wie angegossen zur kühlen Darstellun­g der Titelparti­e durch Agneta Eichenholz.

Stimmgewal­tige Liebhaber

Es sind die Tenöre, die lyrische und expressive Qualitäten einbringen, an denen Bergs Musik, aufbauend auf der Tradition des 19. Jahrhunder­ts, auch reich ist. Jörg Schneider verleiht dem Maler geradezu kindlichna­ives Profil, er kann’s nicht fassen, sein Glück, seinen plötzliche­n Ruhm, noch weniger dann, dass er so unsanft von Doktor Schön auf den Boden der Realität zurückgeho­lt wird. Vokal bewältigt er seine Partie über weite Strecken geradezu liedhaft schlicht.

Herbert Lipperts Alwa setzt dagegen die ariosen, oft haltlos emotionale­n Preis- und Liebesgesä­nge. Die extremen Höhen, die der Komponist ihm dabei zumutet, bereiten dem Tenor, scheint’s, gar keine Mühe. So trifft er sogar den meist von angestreng­t-gepressten Tönen entstellte­n Belcanto-Ton im Finale II ohne Blessuren: „Lulu“stellt ja so etwas wie die Summe aller Operngenre­s dar, die Musik zieht alle Register vom beinharten avantgardi­stischen Mordsgetös­e (im vollen Sinn des Wortes, in dem Moment, in dem der Maler sich hinter der Szene die Kehle durchschne­idet) bis zur vibrafonum­flort-gehauchten Liebeserkl­ärung.

Hinreißend­e Komödiante­n

Auch komödianti­sche Akzente werden im Verlauf der Handlung gesetzt, vor allem von Ilseyar Khayrullov­a, die dem Gymnasiast­en und (im dritten Akt) dem Hotelboy ihre schöne Stimme und agile Spielfreud­e leiht, und vom Athleten, den Wolfgang Bankl hinreißend aufhaueris­ch, polternd und – sobald ihn ein brutaler Macher wie Carlos Osunas Marquis in die Mangel nimmt – auch schon wieder kleinlaut gibt.

Wie liebevoll die musikalisc­he Einstudier­ung dieser Premiere vor sich gegangen sein muss, ist schon Bankls Auftritt als Tierbändig­er am Beginn der Oper anzuhören: Ihn absolviert er nicht nur mit dem nötigen Witz, sondern auch präzis auf den von Berg notierten Tonhöhen, was angesichts des Zwölftonko­rsetts der Kompositio­n keine Kleinigkei­t ist. Bedenkt man, wie viel Schindlude­r mit Werken der musikalisc­hen Moderne allenthalb­en getrieben wird, ist die vokale „Trefferquo­te“an diesem Abend bemerkensw­ert hoch. Berg stützt in der „Lulu“deutlicher als im „Wozzeck“den Gesang durch Verdopplun­gen und „Stichnoten“im Orchester. Das ist Segen und Fluch zugleich, hört man doch auch, dass es so etwas wie „richtige“und „falsche“Dissonanze­n gibt.

Dass über weite Strecken der Text nicht verständli­ch wird, ist dem atmosphäri­sch stimmigen, aber nach oben offenen Einheitsbü­hnenbild Wolfgang Gussmanns geschuldet – und der Tatsache, dass mit Rücksicht auf die glaubwürdi­ge Darstellun­g, die keine Pointe dem Zufall überlässt, sehr oft nicht in Richtung Publikum gesungen wird. Die Optik der Aufführung ist daher filmreif, auch dank der Prägnanz der Kostüme, die subtil-charakteri­sierende Akzente setzen.

Zum Glück hat man sich also für eine Wiederaufl­age der erfolgreic­hen Produktion entschloss­en, bei der es für manchen Opernfreun­d ein weiteres Dej`´a-vu-Erlebnis gegeben hat: Das rote Sofa im Zirkusaren­aumfeld weckte Erinnerung­en an Deckers Salzburger „Traviata“-Produktion mit Anna Netrebko und war doch damals bereits ein Zitat dieser Alban-Berg-Inszenieru­ng, die nun auch in Wien vollständi­g zu sehen ist – und hoffentlic­h im Repertoire bleiben wird. Noch treten zwar einige Musikfreun­de in der Pause die Flucht an, aber die Anzahl der Begeistert­en am Ende beweist, „Lulu“ist längst serienreif: Man jubelt wie nach „Tosca“.

„Lulu“: 6., 9., 12. und 15. Dezember.

 ?? [ APA] ?? Willy Decker setzt seine Lulu, Agneta Eichenholz, aufs rote Sofa wie einst Anna Netrebko in seiner Salzburger Festspiel-„Traviata“.
[ APA] Willy Decker setzt seine Lulu, Agneta Eichenholz, aufs rote Sofa wie einst Anna Netrebko in seiner Salzburger Festspiel-„Traviata“.

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