Komische Tragödie der „Urgestalt des Weibes“
Staatsoper. Agneta Eichenholz ist die neue Lulu in der erstmals in Wien in der dreiaktigen Version gezeigten, brillanten Inszenierung Willy Deckers. Ein exzellentes Ensemble und das Orchester brillieren unter Ingo Metzmacher.
Alban Bergs „Lulu“kehrte heim auf die Staatsopernbühne. Die Inszenierung Willy Deckers ist nicht neu, sie war es schon nicht, als sie im Jahr 2000 erstmals gezeigt wurde. Man hatte sie aus Paris geholt, kappte jedoch den dritten Akt und gab das Fragment, wie Berg es hinterlassen hatte. Nun hat Decker die ursprüngliche Version seiner Inszenierung rekonstruiert, und das Publikum der Wiener Staatsoper kommt nach 1983 zum zweiten Mal in den Genuss des gesamten Werks inklusive der von Friedrich Cerha vervollständigten Teile.
Agneta Eichenholz ist die neue Lulu. Sie gibt eine kühle, scheinbar vollkommen emotionslose Schönheit, die ebenso makellos aussieht, wie sie die teuflisch schweren Kantilenen und Koloraturen von Bergs Zwölftonkomposition singt. Nur zwei Mal gerät sie außer sich, lässt ihren Emotionen freien Lauf: im Dialog mit Doktor Schön („Wenn ich einem Menschen auf dieser Welt angehöre“) und angesichts ihres eigenen Bildes, das am Ende ihres unaufhaltsamen Abstiegs in jener Londoner Dachkammer entrollt wird, in der Jack the Ripper sie wenig später ermorden wird.
In diesen Momenten verrät die Sopranstimme jenseits ihrer artistischen Perfektion auch vokale Fülle und allerhand Gefühlspotenzial. Im Übrigen gilt für diese Lulu das alte Bühnengesetz für die Darstellung außerordentlicher Persönlichkeiten: den König, den spielen die andern.
Diesfalls „spielt“(im Sinne von spiegelt) die exzellente Besetzung dieser Neueinstudierung den männermordenden Vamp, die „Urgestalt des Weibes“, an der kein Mann vorbeikommt – und, wie das Beispiel der Gräfin Geschwitz lehrt, auch kaum eine Frau, zumindest keine Lesbierin. Angela Denoke singt der Unentrinnbaren nach manch schmachtendem Kompliment den verzehrenden „Liebestod“am Ende des Werks, inklusive des von Berg vermutlich gar nicht vorgesehenen „Verflucht!“.
Abgeklärter ewiger Großpapa
Für ähnlich starke Momente sorgen Franz Grundheber als wunderbar abgeklärter, wie traumwandlerisch durchs Geschehen wandernder ewiger Großpapa Schigolch und Bo Skovhus. Er legt den Doktor Schön auch akustisch als nervöse Studie eines innerlich längst zerstörten Menschen an, der nach außen hin die gründerzeitlich-hochtrabende Fassade so lang wie möglich aufrechtzuerhalten sucht: Mit Lulu spricht er zeitweise nur im Flüsterton, explodiert hie und da aber, weil er Erregung, Wut oder Verzweiflung nicht mehr im Zaum halten kann.
Das harmoniert perfekt mit Ingo Metzmachers musikalischer Gestaltung: Er hat das Werk im wahrsten Sinne des Wortes „im kleinen Finger“, jede rhythmische Finesse dieser an Vertracktheiten und einander überlagernden Strukturen so reichen Partitur ist an seinen Bewegungen abzulesen. Das Orchester fühlt sich offenkundig sicher und realisiert, weil Metzmacher auch das Tempo klug dosiert, die ärgsten Spitzfindigkeiten mit feiner Klinge. Bergs sinnlichleuchtende Orchestrierungskunst kostet man freilich nicht in aller philharmonischen Genüsslichkeit aus. Wie intensiv das leuchten, klingen und singen könnte, hörte man vor Kurzem in München unter Kirill Petrenko, dem freilich keine vergleichbar konsistente Sängerbesetzung und im Vergleich zu Deckers Feinarbeit quasi gar keine Inszenierung zu Gebote standen.
Insofern setzte man am Wiener Premierenabend Maßstäbe. Und Metzmachers punktgenaue Realisierung des Notentexten passt, frei von jeglichen romantischen oder impressionistischen Assoziationen, wie angegossen zur kühlen Darstellung der Titelpartie durch Agneta Eichenholz.
Stimmgewaltige Liebhaber
Es sind die Tenöre, die lyrische und expressive Qualitäten einbringen, an denen Bergs Musik, aufbauend auf der Tradition des 19. Jahrhunderts, auch reich ist. Jörg Schneider verleiht dem Maler geradezu kindlichnaives Profil, er kann’s nicht fassen, sein Glück, seinen plötzlichen Ruhm, noch weniger dann, dass er so unsanft von Doktor Schön auf den Boden der Realität zurückgeholt wird. Vokal bewältigt er seine Partie über weite Strecken geradezu liedhaft schlicht.
Herbert Lipperts Alwa setzt dagegen die ariosen, oft haltlos emotionalen Preis- und Liebesgesänge. Die extremen Höhen, die der Komponist ihm dabei zumutet, bereiten dem Tenor, scheint’s, gar keine Mühe. So trifft er sogar den meist von angestrengt-gepressten Tönen entstellten Belcanto-Ton im Finale II ohne Blessuren: „Lulu“stellt ja so etwas wie die Summe aller Operngenres dar, die Musik zieht alle Register vom beinharten avantgardistischen Mordsgetöse (im vollen Sinn des Wortes, in dem Moment, in dem der Maler sich hinter der Szene die Kehle durchschneidet) bis zur vibrafonumflort-gehauchten Liebeserklärung.
Hinreißende Komödianten
Auch komödiantische Akzente werden im Verlauf der Handlung gesetzt, vor allem von Ilseyar Khayrullova, die dem Gymnasiasten und (im dritten Akt) dem Hotelboy ihre schöne Stimme und agile Spielfreude leiht, und vom Athleten, den Wolfgang Bankl hinreißend aufhauerisch, polternd und – sobald ihn ein brutaler Macher wie Carlos Osunas Marquis in die Mangel nimmt – auch schon wieder kleinlaut gibt.
Wie liebevoll die musikalische Einstudierung dieser Premiere vor sich gegangen sein muss, ist schon Bankls Auftritt als Tierbändiger am Beginn der Oper anzuhören: Ihn absolviert er nicht nur mit dem nötigen Witz, sondern auch präzis auf den von Berg notierten Tonhöhen, was angesichts des Zwölftonkorsetts der Komposition keine Kleinigkeit ist. Bedenkt man, wie viel Schindluder mit Werken der musikalischen Moderne allenthalben getrieben wird, ist die vokale „Trefferquote“an diesem Abend bemerkenswert hoch. Berg stützt in der „Lulu“deutlicher als im „Wozzeck“den Gesang durch Verdopplungen und „Stichnoten“im Orchester. Das ist Segen und Fluch zugleich, hört man doch auch, dass es so etwas wie „richtige“und „falsche“Dissonanzen gibt.
Dass über weite Strecken der Text nicht verständlich wird, ist dem atmosphärisch stimmigen, aber nach oben offenen Einheitsbühnenbild Wolfgang Gussmanns geschuldet – und der Tatsache, dass mit Rücksicht auf die glaubwürdige Darstellung, die keine Pointe dem Zufall überlässt, sehr oft nicht in Richtung Publikum gesungen wird. Die Optik der Aufführung ist daher filmreif, auch dank der Prägnanz der Kostüme, die subtil-charakterisierende Akzente setzen.
Zum Glück hat man sich also für eine Wiederauflage der erfolgreichen Produktion entschlossen, bei der es für manchen Opernfreund ein weiteres Dej`´a-vu-Erlebnis gegeben hat: Das rote Sofa im Zirkusarenaumfeld weckte Erinnerungen an Deckers Salzburger „Traviata“-Produktion mit Anna Netrebko und war doch damals bereits ein Zitat dieser Alban-Berg-Inszenierung, die nun auch in Wien vollständig zu sehen ist – und hoffentlich im Repertoire bleiben wird. Noch treten zwar einige Musikfreunde in der Pause die Flucht an, aber die Anzahl der Begeisterten am Ende beweist, „Lulu“ist längst serienreif: Man jubelt wie nach „Tosca“.
„Lulu“: 6., 9., 12. und 15. Dezember.