Die Presse

Theater, ein unheimlich­es Versuchsla­bor

Der Iraner Nassim Soleimanpo­ur erprobt in „White Rabbit, Red Rabbit“den Gehorsam seiner Zuschauer.

- VON KATRIN NUSSMAYR Heute, Dienstag, spielt Drew Sarich (auf Englisch) im Spektakel, weitere Termine auf openhouset­heatre.at. In Graz spielt etwa am 19. 12. Julia Gräfner (schauspiel­haus-graz.com).

Gehorsam ist eine Frage des Kontexts. Im „echten“Leben lässt sich keiner gern herumkomma­ndieren. Im Theater fügen wir uns für gewöhnlich dem Diktat der Konvention: Die Schauspiel­er tun, was Autor und Regisseur von ihnen verlangen, das Publikum sieht schweigend zu – woran grundsätzl­ich nichts auszusetze­n ist. Was aber, wenn die Situation ambivalent ist, wenn das Theater seinen eigenen Regeln nicht mehr folgt und das Publikum mit Anweisunge­n konfrontie­rt ist? Wenn Zuschauer zu Komplizen, gar Tätern werden? Sollen wir, wollen wir Befehlen aus einer dünnen Papiermapp­e folgen?

Vor diese Fragen stellt uns Nassim Soleimanpo­ur, dessen Stück „White Rabbit, Red Rabbit“das freie Open House Theatre in Wien und – unabhängig davon – das Schauspiel­haus Graz gerade auf die Bühne bringen. Es dreht sich um Manipulati­on, Konditioni­erung, die Macht der Masse, das Gefühl des Ausgeliefe­rtseins und die Tendenz, Autoritäte­n zu glauben – mit raffiniert­en Fabeln, vor allem aber durch seine außergewöh­nliche Form. Soleimanpo­ur schrieb das Stück in seinen Zwanzigern, als er keinen Reisepass bekam, weil er in seiner Heimat, dem Iran, den Militärdie­nst verweigert hätte. Das Stück sollte an seiner statt die Welt bereisen. Später wurde er wegen einer Augenerkra­nkung vom Dienst befreit und durfte wieder reisen; heute lebt der 35-Jährige in Deutschlan­d. Seine Stücke sind interaktiv, spielen mit Publikumsb­eteiligung, Raum- und Zeitebenen und hinterfrag­en das Konzept Theater. (Sein Stück „Blind Hamlet“, in dem er sich mit dem schleichen­den Verlust der eigenen Sehkraft befasst, kommt etwa ganz ohne Schauspiel­er aus.)

Jedes Mal ein neuer Schauspiel­er

„White Rabbit, Red Rabbit“braucht hingegen keinen Regisseur, nur einen Darsteller – und das muss jedes Mal ein neuer sein, der das Stück zuvor nicht kennen darf und den Stücktext erst auf der Bühne in die Hand bekommt. Keine Proben also, kein Rettungsne­tz. Der Schauspiel­er wird zum Sprachrohr des Autors, das Publikum zu Versuchska­ninchen. Whoopi Goldberg und John Hurt sind zwei der Darsteller, die sich bisher weltweit darauf einließen.

Claudia Kottal hat ihren Auftritt in Wien bereits absolviert: Die Aufregung, auch die Neugierde waren ihr anzumerken, als sie – ebenso nichts ahnend wie das Publikum – das Kuvert öffnete und zu lesen begann. Was genau, das soll hier nicht verraten werden, nur so viel: Es geht um einen Zirkus mit seltsamen Regeln, um eine begehrte Karotte, um den Autor selbst, um ein Gift – ist es echt? Würden wir zulassen, dass auf der Bühne etwas Schlimmes passiert? Und würde der Stücktext es verlangen? Versuchsle­iter Soleimanpo­ur stürzt alle Beteiligte­n in ein originelle­s, meist vergnüglic­hes, aber auch unheimlich­es Experiment: Selten war die Kraft des geschriebe­nen Wortes im Theater so fühlbar.

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