Theater, ein unheimliches Versuchslabor
Der Iraner Nassim Soleimanpour erprobt in „White Rabbit, Red Rabbit“den Gehorsam seiner Zuschauer.
Gehorsam ist eine Frage des Kontexts. Im „echten“Leben lässt sich keiner gern herumkommandieren. Im Theater fügen wir uns für gewöhnlich dem Diktat der Konvention: Die Schauspieler tun, was Autor und Regisseur von ihnen verlangen, das Publikum sieht schweigend zu – woran grundsätzlich nichts auszusetzen ist. Was aber, wenn die Situation ambivalent ist, wenn das Theater seinen eigenen Regeln nicht mehr folgt und das Publikum mit Anweisungen konfrontiert ist? Wenn Zuschauer zu Komplizen, gar Tätern werden? Sollen wir, wollen wir Befehlen aus einer dünnen Papiermappe folgen?
Vor diese Fragen stellt uns Nassim Soleimanpour, dessen Stück „White Rabbit, Red Rabbit“das freie Open House Theatre in Wien und – unabhängig davon – das Schauspielhaus Graz gerade auf die Bühne bringen. Es dreht sich um Manipulation, Konditionierung, die Macht der Masse, das Gefühl des Ausgeliefertseins und die Tendenz, Autoritäten zu glauben – mit raffinierten Fabeln, vor allem aber durch seine außergewöhnliche Form. Soleimanpour schrieb das Stück in seinen Zwanzigern, als er keinen Reisepass bekam, weil er in seiner Heimat, dem Iran, den Militärdienst verweigert hätte. Das Stück sollte an seiner statt die Welt bereisen. Später wurde er wegen einer Augenerkrankung vom Dienst befreit und durfte wieder reisen; heute lebt der 35-Jährige in Deutschland. Seine Stücke sind interaktiv, spielen mit Publikumsbeteiligung, Raum- und Zeitebenen und hinterfragen das Konzept Theater. (Sein Stück „Blind Hamlet“, in dem er sich mit dem schleichenden Verlust der eigenen Sehkraft befasst, kommt etwa ganz ohne Schauspieler aus.)
Jedes Mal ein neuer Schauspieler
„White Rabbit, Red Rabbit“braucht hingegen keinen Regisseur, nur einen Darsteller – und das muss jedes Mal ein neuer sein, der das Stück zuvor nicht kennen darf und den Stücktext erst auf der Bühne in die Hand bekommt. Keine Proben also, kein Rettungsnetz. Der Schauspieler wird zum Sprachrohr des Autors, das Publikum zu Versuchskaninchen. Whoopi Goldberg und John Hurt sind zwei der Darsteller, die sich bisher weltweit darauf einließen.
Claudia Kottal hat ihren Auftritt in Wien bereits absolviert: Die Aufregung, auch die Neugierde waren ihr anzumerken, als sie – ebenso nichts ahnend wie das Publikum – das Kuvert öffnete und zu lesen begann. Was genau, das soll hier nicht verraten werden, nur so viel: Es geht um einen Zirkus mit seltsamen Regeln, um eine begehrte Karotte, um den Autor selbst, um ein Gift – ist es echt? Würden wir zulassen, dass auf der Bühne etwas Schlimmes passiert? Und würde der Stücktext es verlangen? Versuchsleiter Soleimanpour stürzt alle Beteiligten in ein originelles, meist vergnügliches, aber auch unheimliches Experiment: Selten war die Kraft des geschriebenen Wortes im Theater so fühlbar.