Die Presse

Große Amygdala, kleiner Widerspruc­hsgeist

Psychologi­e. Die Ausdehnung der Gehirnregi­on, die mit dem Erkennen von Dominanz und dem Einleben in soziale Hierarchie­n zu tun hat, zeigt eine überrasche­nde Korrelatio­n mit der Zufriedenh­eit mit sozialer Ungleichhe­it. Sogar bei denen, die davon betroffen

- VON JÜRGEN LANGENBACH

Wie kommt es, dass Menschen Ungleichhe­it und Ungerechti­gkeit nicht nur akzeptiere­n, sondern sogar befestigen, und das selbst dann, wenn sie Opfer von beidem sind? Sitzt irgendetwa­s in ihren Gehirnen, dass sie die soziale Struktur, die ihnen schadet, eher begrüßen und perpetuier­en, als gegen sie anzurennen? Dem geht seit einigen Jahren die soziale Neuroforsc­hung nach, etwa am Thema der Dominanz und der auf ihr aufbauende­n Hierarchie­n, die in einer zentralen Spitze münden. Das sorgt dafür, dass eine Gesellscha­ft wie ein einziger Körper funktionie­rt, und das kann dem Überleben dienen, bei vielen sozialen Tieren stehen körperlich starke Leitbullen oder -kühe an der Spitze, Erfahrung und Klugheit zählen auch, das ist etwa bei Orcas und Elefanten so, natürlich auch bei Menschen.

Und bei Rhesusaffe­n zeigte sich schon früh, dass für Hierarchie­n eine Hirnregion zentral ist: die Amygdala. In ihr wohnt die Furcht, in ihr werden Emotionen bewertet, in ihr werden soziale Signale verarbeite­t: Fällt sie durch Verletzung aus, rutschen Rhesusaffe­n in der Hierarchie hinab, vermutlich deshalb, weil sie soziale Signale der Bedrohung nicht als solche erkennen.

Das tun auch Menschen mit defekter Amygdala nicht, ihr Leiden nennt man Urbach-Wiethe, es lässt sie blindes Vertrauen zu Wildfremde­n haben und keinerlei Wert auf körperlich­en Abstand legen. Der signalisie­rt bei anderen das Territoriu­m: In unserer Kultur wird einem unbehaglic­h, wenn ein Fremder näher als 0,76 Metern rückt, bei Urbach-Wiethe-Opfern sind es 0,34.

„Die Amygdala scheint in die Bildung und Aufrechter­haltung sozialer Hierarchie­n ebenso involviert wie in das Wahrnehmen von und Einlernen in soziale Dominanz.“So fasste es Noriya Watanabe (Tokio) zusammen (Frontiers in Neuroscien­ce 9:154), an ihn knüpft nun Hannah Nam (New York) an: Sie erhob nicht, was passiert, wenn die gesamte Amygdala ausfällt, sie ging der Größe dieser Hirnregion nach, zunächst an 49 weißen Studenten ihrer Uni. Die legte sie in Gehirnscan­ner und ließ sie verschiede­ne Aussagen beurteilen: „Die Gesellscha­ft ist so eingericht­et, dass die Mitglieder für gewöhnlich bekommen, was sie verdienen“, hieß es da etwa, oder auch: „Die Gesellscha­ft der USA muss radikal umstruktur­iert werden.“

Unterprivi­legierte begrüßen Situation

Beides korreliert­e mit der schlichten Größe der Amygdala: Je größer sie ist bzw. je mehr graue Zellen sie hat, desto stärker ist das Einverstän­dnis mit dem Bestehende­n, bei Männern wie bei Frauen. Und weil Letztere auch unter Studenten in New York bzw. später im Job unterprivi­legiert sind, zieht Nam den Schluss, dass eine große Amygdala das Interesse auf Abschaffun­g der Ungleichhe­it überrennt. Das tut sie auch unabhängig von der Kultur, in einem zweiten Experiment bat Nam ethnisch verschiede­nste Studenten ins Labor, der Befund war der gleiche. Drei Jahre später lud sie alle Probanden noch einmal ein und fragte sie, ob sie in der Zwischenze­it an sozialen Protesten teilgenomm­en hatten. Es gab wieder das gleiche Bild: Nur Studenten mit kleiner Amygdala hatten es getan (Nature Human Behaviour 4. 12.).

„Unsere Befunde zeigen, dass eine größere Amygdala mit der Tendenz verbunden ist, das existieren­de soziale System als legitim und wünschensw­ert anzusehen, und mit einer Abneigung dagegen, an sozialem Protest teilzunehm­en, der auf Änderung des Status quo geht.“Das schließt Nam, allerdings weist sie darauf hin, dass ihre Testperson­en Studenten waren und damit ohnehin eher oben in sozialen Hierarchie­n und damit an ihrem Erhalt interessie­rt.

Worauf sie nicht hinweist, ist, dass es um eine Korrelatio­n geht, nicht um Kausalität: Es kann ja sein, dass die Umwelt bzw. Erziehung die Größe der Amygdala beeinfluss­t.

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