Große Amygdala, kleiner Widerspruchsgeist
Psychologie. Die Ausdehnung der Gehirnregion, die mit dem Erkennen von Dominanz und dem Einleben in soziale Hierarchien zu tun hat, zeigt eine überraschende Korrelation mit der Zufriedenheit mit sozialer Ungleichheit. Sogar bei denen, die davon betroffen
Wie kommt es, dass Menschen Ungleichheit und Ungerechtigkeit nicht nur akzeptieren, sondern sogar befestigen, und das selbst dann, wenn sie Opfer von beidem sind? Sitzt irgendetwas in ihren Gehirnen, dass sie die soziale Struktur, die ihnen schadet, eher begrüßen und perpetuieren, als gegen sie anzurennen? Dem geht seit einigen Jahren die soziale Neuroforschung nach, etwa am Thema der Dominanz und der auf ihr aufbauenden Hierarchien, die in einer zentralen Spitze münden. Das sorgt dafür, dass eine Gesellschaft wie ein einziger Körper funktioniert, und das kann dem Überleben dienen, bei vielen sozialen Tieren stehen körperlich starke Leitbullen oder -kühe an der Spitze, Erfahrung und Klugheit zählen auch, das ist etwa bei Orcas und Elefanten so, natürlich auch bei Menschen.
Und bei Rhesusaffen zeigte sich schon früh, dass für Hierarchien eine Hirnregion zentral ist: die Amygdala. In ihr wohnt die Furcht, in ihr werden Emotionen bewertet, in ihr werden soziale Signale verarbeitet: Fällt sie durch Verletzung aus, rutschen Rhesusaffen in der Hierarchie hinab, vermutlich deshalb, weil sie soziale Signale der Bedrohung nicht als solche erkennen.
Das tun auch Menschen mit defekter Amygdala nicht, ihr Leiden nennt man Urbach-Wiethe, es lässt sie blindes Vertrauen zu Wildfremden haben und keinerlei Wert auf körperlichen Abstand legen. Der signalisiert bei anderen das Territorium: In unserer Kultur wird einem unbehaglich, wenn ein Fremder näher als 0,76 Metern rückt, bei Urbach-Wiethe-Opfern sind es 0,34.
„Die Amygdala scheint in die Bildung und Aufrechterhaltung sozialer Hierarchien ebenso involviert wie in das Wahrnehmen von und Einlernen in soziale Dominanz.“So fasste es Noriya Watanabe (Tokio) zusammen (Frontiers in Neuroscience 9:154), an ihn knüpft nun Hannah Nam (New York) an: Sie erhob nicht, was passiert, wenn die gesamte Amygdala ausfällt, sie ging der Größe dieser Hirnregion nach, zunächst an 49 weißen Studenten ihrer Uni. Die legte sie in Gehirnscanner und ließ sie verschiedene Aussagen beurteilen: „Die Gesellschaft ist so eingerichtet, dass die Mitglieder für gewöhnlich bekommen, was sie verdienen“, hieß es da etwa, oder auch: „Die Gesellschaft der USA muss radikal umstrukturiert werden.“
Unterprivilegierte begrüßen Situation
Beides korrelierte mit der schlichten Größe der Amygdala: Je größer sie ist bzw. je mehr graue Zellen sie hat, desto stärker ist das Einverständnis mit dem Bestehenden, bei Männern wie bei Frauen. Und weil Letztere auch unter Studenten in New York bzw. später im Job unterprivilegiert sind, zieht Nam den Schluss, dass eine große Amygdala das Interesse auf Abschaffung der Ungleichheit überrennt. Das tut sie auch unabhängig von der Kultur, in einem zweiten Experiment bat Nam ethnisch verschiedenste Studenten ins Labor, der Befund war der gleiche. Drei Jahre später lud sie alle Probanden noch einmal ein und fragte sie, ob sie in der Zwischenzeit an sozialen Protesten teilgenommen hatten. Es gab wieder das gleiche Bild: Nur Studenten mit kleiner Amygdala hatten es getan (Nature Human Behaviour 4. 12.).
„Unsere Befunde zeigen, dass eine größere Amygdala mit der Tendenz verbunden ist, das existierende soziale System als legitim und wünschenswert anzusehen, und mit einer Abneigung dagegen, an sozialem Protest teilzunehmen, der auf Änderung des Status quo geht.“Das schließt Nam, allerdings weist sie darauf hin, dass ihre Testpersonen Studenten waren und damit ohnehin eher oben in sozialen Hierarchien und damit an ihrem Erhalt interessiert.
Worauf sie nicht hinweist, ist, dass es um eine Korrelation geht, nicht um Kausalität: Es kann ja sein, dass die Umwelt bzw. Erziehung die Größe der Amygdala beeinflusst.