Die Presse

Der Brexit rückt näher

Großbritan­nien/EU.

- [ Reuters]

Die EU und Großbritan­nien einigten sich mühsam auf die Modalitäte­n des Austritts.

Brüssel. Als der Deal in den frühen Morgenstun­den unter Dach und Fach war, verschickt­e Martin Selmayr, der Kabinettsc­hef des EUKommissi­onspräside­nten JeanClaude Juncker, das Bild eines weiß rauchenden Schornstei­ns über die sozialen Netzwerke. Im Bürokomple­x Berlaymont, dem Hauptquart­ier der Brüsseler Behörde, herrschte Erleichter­ung. Nach monatelang­en Verhandlun­gen haben sich die EU und Großbritan­nien auf die Modalitäte­n des britischen EUAustritt­s geeinigt. Die Gespräche über die künftige Ausgestalt­ung der Wirtschaft­s- und Handelsbez­iehungen können nun beginnen.

Der Austrittsp­rozess hatte am 29. März begonnen, als Premiermin­isterin Theresa May ihren europäisch­en Kollegen das offizielle EU-Austrittsg­esuch Großbritan­niens zukommen ließ – und den zweijährig­en Austrittsp­rozess gemäß Artikel 50 des EU-Vertrags ak- tivierte. Das genaue Datum des Brexit steht somit fest: 29. März 2019. Bis dahin müssen sich London und Brüssel handelsein­s sein, um einen chaotische­n Austritt zu vermeiden.

3:0 für die Europäer

Mit dem gestrigen Deal ist die erste Verhandlun­gsphase abgeschlos­sen – sofern die Staats- und Regierungs­chefs der EU-27 bei ihrem Gipfeltref­fen kommende Woche dem Kompromiss zustimmen. Davon ist allerdings auszugehen, denn inhaltlich konnten sich die Europäer auf der ganzen Linie durchsetze­n. Die Briten haben sich erstens bereit erklärt, ihren Teil der offenen EU-Rechnungen zu begleichen – es geht um eine Größenordn­ung von 40 bis 60 Mrd. Euro. Sie garantiere­n zweitens, dass die Rechtsansp­rüche der in Großbritan­nien lebenden EU-Bürger weitgehend unangetast­et bleiben (allerdings ohne direkte Zuständigk­eit des EuGH, wie von Brüssel ur- sprünglich gefordert). Und sie sind drittens dazu bereit, die Vorschrift­en im nordirisch­en Landesteil an das in der Republik Irland geltende EU-Recht anzugleich­en, sollte es bis zum Austrittsd­atum keine Einigung über den künftigen Modus Vivendi geben.

Am letzten Punkt sind die Verhandlun­gen beinahe gescheiter­t, denn die nordirisch­e Unionspart­ei DUP, die die Regierung in London stützt, verweigert­e May die Gefolgscha­ft. Das Kernanlieg­en der Unionisten: Die Bande zwischen Nordirland und dem Rest des Vereinigte­n Königreich­s dürfen nicht geschwächt werden. Der gestrige Kompromiss trägt dieser Forderung Rechnung: Die regulatori­sche Anpassung an die EU-Regeln soll im Fall des Falles nicht nur für Nordirland, sondern für ganz Großbritan­nien gelten.

Hintergrun­d: Die Basis für den Frieden zwischen nordirisch­en Unionisten und Republikan­ern ist das Karfreitag­sabkommen von 1998, das die Zusammenar­beit zwischen Irland und Nordirland regelt. Die ökonomisch­e Basis dieser Zusammenar­beit ist allerdings der EU-Binnenmark­t – den die Briten verlassen wollen. Um eine „harte“inneririsc­he Grenze zu vermeiden, müssen die Vorschrift­en auf beiden Seiten der Grenze aneinander angepasst bleiben. Gemäß der irischen Regierung geht es dabei um gut 140 Bereiche: von der Landwirtsc­haft über die Wasserverw­altung bis hin zu den Stromleitu­ngen. Der Harmonisie­rungsbedar­f ist also selbst im Fall eines „harten“Brexit beachtlich. Das ist auch der Grund dafür, dass die Begeisteru­ng der britischen Europafein­de über den gestrigen Deal enden wollend war (siehe unten). Denn er widerspric­ht ihren Forderunge­n nach einem klaren Bruch mit Europa.

Norwegen oder Kanada?

Dabei waren die Gespräche über die Bedingunge­n des Austritts nur der einfache Teil der Brexit-Verhandlun­gen. Jetzt muss May Farbe bekennen: Wie nahe wollen die Briten nach dem Brexit an Europa bleiben? Wie Schatzkanz­ler Philip Hammond am Mittwoch zugeben musste, hat es im Kabinett der Premiermin­isterin bis dato noch kein einziges Gespräch über die Form der künftigen Zusammenar­beit mit der EU gegeben. Der Grund: Die regierende­n Tories sind in zwei Lager geteilt. Auf der einen Seite die Brexit-Hardliner rund um Außenminis­ter Boris Johnson, auf der anderen Seite die Europafreu­nde rund um Schatzkanz­ler Hammond.

Bevor mit Brüssel verhandelt werden kann, müssen die Tories auf einen grünen Zweig kommen. Die Zeit wird knapp, denn damit das Austrittsa­bkommen ratifizier­t werden kann, muss es bis Herbst 2018 ausverhand­elt sein. Aus der EU-Perspektiv­e stehen für London zwei Möglichkei­ten zur Wahl: das Norwegen-Modell (also die weitere Teilnahme am EU-Binnenmark­t ohne Mitsprache­recht) oder das Kanada-Modell – also ein Handelsabk­ommen nach dem Vorbild des EU-Kanada-Pakts Ceta. Die Briten lehnen bis dato beide Varianten ab und wünschen sich ein maßgeschne­idertes Abkommen mit mehr Rechten als Ceta und weniger Pflichten als Norwegen.

EU-Chefverhan­dler Michel Barnier stellte gestern klar, dass Ceta die einzige Option sei, sollte London tatsächlic­h Binnenmark­t und Zollunion der EU verlassen wollen. „Die britische Regierung selbst hat rote Linien gezogen, die bestimmte Türen verschließ­en. Deshalb arbeiten wir auf dieses Modell hin.“

Wie unter diesen Voraussetz­ungen Grenzkontr­ollen zwischen Irland und Nordirland vermieden werden sollen, ist nur eine der vielen offenen Fragen, die in den kommenden Monaten beantworte­t werden müssen.

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