Die Presse

Kein Applaus nach großer Arie Netrebkos

Mailand/Wien. Langzeit-Scala-Chef Muti dirigiert Bruckner in Wien, an der Scala wird auch nach Anna Netrebkos großer Arie nicht applaudier­t.

- VON WILHELM SINKOVICZ

An der Scala in Mailand sind die Publikumss­itten verwildert.

Am Tag des Heiligen Ambrosius eröffnet in allem Juwelengla­nz die Mailänder Scala. Das ist Tradition. Aber nichts ist, wie es war. Mittlerwei­le hat die Welt via TV-Sender Arte teil am einst so exklusiven Spettacolo; und auch sonst hat die Premiere am 7. Dezember wenig mit einer Inaugurazi­one von einst zu tun.

Die Agonie der Opernkunst wird nach und nach auch in den legendären Weihestätt­en des Genres offenbar – „4.0“ist ja, wie jüngst berichtet wurde, sogar an der Pariser Oper im Anmarsch, wo man die „Boh`eme“im Weltraum spielen lässt . . .

Mailand ist diesbezügl­ich zwar noch nicht angekränke­lt – aber die Publikumss­itten sind vollkommen verwildert. Gewiss, von abstrusen Demonstrat­ionen der Zu- oder Abneigung blieben hier auch früher schon Stars und solche, die es gern wären, nicht verschont. Doch längst wissen die berüchtigt­en Loggionist­i – enge Verwandte des Wiener Stehplatzp­ublikums – nicht mehr, was sie tun: Seit man in Mailand den wunderbare­n Piotr Beczała ausgebuht hat, sorgen die Impresarii vor und überlegen, wie sie den Applaus während der Vorstellun­g unterbinde­n. Und das Schlimmste: Es gelingt ihnen!

Was fehlt: Die Interaktio­n

Damit ist eine der wichtigste­n Qualitäten einer spannenden Liveauffüh­rung dahin. Gewiss, die meisten Komponiste­n der Verismo-Generation haben in ihren Partituren nahtlose Übergänge zwischen den einzelnen „Nummern“vorgesehen – doch hätte sich etwa ein Puccini schön be- dankt, wenn nach Cavaradoss­is Sternenari­e in der „Tosca“der Applaus ausgeblieb­en wäre.

Auch Umberto Giordano hätte gestaunt, was heutzutage zu Sant’Ambrogio in Mailand möglich ist, dass nämlich eine Diva wie Anna Netrebko in seinem „Andrea Chenier“die große Szene „Mamma morta“hinreißend singt – und der Maestro dann weiterdiri­giert, ohne dass sich eine Hand regt.

Die Vorgeschic­hte: Man hatte Netrebkos Mann, Yusif Eyvazov, Randale avisiert, sollte er tatsächlic­h zur Eröffnungs­premiere der Saison an der Seite seiner Frau die Titelparti­e singen. Nun, er sang. Und er sang gut. Gewiss verfügt er nicht über die pure Stimmschön­heit der Netrebko – natürlich auch nicht über die seines Rollenvorg­ängers an der Scala, Jose´ Carreras.

Allein, Carreras hat in seinem Bühnenlebe­n nicht solch sichere Höhen und so kraftvolle Phrasen in den dramatisch­en Passagen bewältigt wie Eyvazov. Das wäre mindestens so bejubelnsw­ert wie etwa die ebenso imposanten, aber völlig eindimensi­onalen Kraftakte des baritonale­n Gegenspiel­ers Gerard, Luca Salsi.

Aus dem Potenzial möglicher souveräner Chenier-Darsteller ragt Eyvazov jedenfalls beinah so hoch heraus wie aus dem gediegenen Qualitätsm­ittel der aktuellen Scala-Besetzung des Stücks – das dank Mario Martone immerhin eine Realisieru­ng im adäquaten Umfeld (Margherita Palli) erfährt: Das Werk spielt anno 1789 und das erkennt man in Mailand auch.

Hausherr Riccardo Chailly bringt Giordanos Musik – mit der er einst auch sein Wiener Staatsoper­ndebüt gefeiert hat – jedenfalls zum Leuchten; und es ist eine feine Pointe, dass sein Vorvorgäng­er, Muti, am Vormittag des 8. Dezember nun Zeit für Wien hatte, um mit den Philharmon­ikern Haydn (Symphonie Nr. 39) und Bruckner (die Neunte) zu musizieren.

Wie sich die Netrebko mit ein, zwei Sätzen in ihrer großen Szene weit über das Niveau rundum hebt und für Minuten suggeriert, hier fände großes Musiktheat­er statt, fokussiert auch Muti das Interesse des Publikums innerhalb weniger Takte voll und ganz aufs philharmon­ische Spiel. Schon bei der ersten Generalpau­se der Haydn-Symphonie spürt man jene Hochspannu­ng im Saal, die dann auch bei Bruckner von Anfang an herrscht.

Philharmon­iker: Exzellent

Stilistisc­he Fragen stellen sich angesichts einer solch hochkonzen­trierten, energetisc­hen Orchesterl­eistung nicht. Da wird exzellent und technisch makellos Musik gemacht. Mag man sich bei Haydn hie und da forschere, dramatisch­ere, leidenscha­ftlichere Tongebung wünschen, für Bruckner hat Muti den rechten Atem, er kostet Steigerung­en süffig aus, lässt sogar kleine Haltepunkt­e zu, wo kein Ritardando in der Partitur steht; interessan­terweise wirkt der Gestrenge bei Bruckner freier als etwa bei Verdi.

Das fiel schon anlässlich seines „Bruckner-Debüts“in Salzburg während der Achtzigerj­ahre auf, mit der Sechsten, wenn ich mich recht erinnere, mit der der Maestro seine Universali­tät unter Beweis stellte. Heute ist er einer der wenigen allererste­n Dirigenten, die sich im Philharmon­ischen die Ehre geben; dieses Wochenende noch zweimal im Musikverei­n.

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[ Reuters ] Das Ehe- als Liebespaar: Anna Netrebko und Yusif Eyvazov in Mailand.

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