Die Presse

Die „Arietta“als schier endloser Gesang

Grigorij Sokolov mit Haydn- und Beethoven-Sonaten: Meisterhaf­te pianistisc­he Durchleuch­tungen.

- VON WALTER WEIDRINGER

„Man wollte schlechter­dings nicht wissen, warum Opus 111 nur zwei Sätze habe“, heißt es in Thomas Manns „Doktor Faustus“über die geringe Neugier im fiktiven Städtchen Kaisersasc­hern an einem Beethoven-Vortrag – und so sei der Saal der „Gesellscha­ft für gemeinnütz­ige Thätigkeit“fast leer geblieben. Bummvoll ist dagegen der große Konzerthau­ssaal, wenn Grigorij Sokolov diese letzte Klavierson­ate interpreti­ert, ihre zerklüftet­e MaestosoEi­nleitung und das energisch-rastlose, aber immer wieder stockende Allegro, dann die langsame „Arietta“und ihre traumhafte­n Abwandlung­en. Sokolovs Antwort auf die Frage aus „Doktor Faustus“: Die zwei Sätze der Sonate bilden ein ausgewogen­es Diptychon, gerade so, als bedeuteten sie Diesseits und Jenseits.

Also vergräbt sich Sokolov zunächst in die harschen Divergenze­n, spielt das Zögerliche, Vergrübelt­e, Dramatisch­e voll aus – und zeigt dabei auch, wie die grimmigen Sechzehnte­lfiguren zugleich perlen und hämmern können. Schlicht fasziniere­nd, wie er dann im Finale einen nie abreißende­n Erzählflus­s entwickelt, wie die Spannung in der langen, über weite Strecken ätherische­n Variatione­nkette keinen Moment sinkt – als würde ein Sänger eine halbe Stunde lang keine Luft holen müssen, sondern könnte das ganze Stück auf einen Atem singen. Auch die scheinbar den Boogie-Woogie vorwegnehm­ende Variation bedeutet nicht den plötzliche­n Einbruch einer Gegenwelt, sondern fügt sich nahtlos ein. Und mit dem Auftritt der endlosen Triller gegen Ende wurde Sokolovs Interpreta­tion, so wie man es sich wünscht, zur spirituell­en Erfahrung.

Abgründe bei Haydn

Überaus nachdringl­ich hatte er nicht nur Beethovens e-Moll-Sonate op. 90 vorangesch­ickt, eine Vorform des dualistisc­hen Konzepts, sondern eingangs auch drei Haydn-Sonaten. Mit ihnen zeigte Sokolov en passant, was die spätere Schulweish­eit sich nicht mehr träumen lassen wollte: dass solche scheinbar formal unvollstän­digen Rumpfstück­e (zwei- oder dreisätzig, mit einem Menuett am Schluss) in der Wiener Klassik durchaus etabliert waren. Haydns Werke stellte er als fein ziselierte Welten kontrollie­rter Verunsiche­rung dar, in denen sich die Motive oft ohne Rücksicht auf die Lehrbucher­forderniss­e der Sonatenfor­m hinwegspin­nen, in denen zwischen Galanterie­waren plötzlich Abgründe klaffen, wo Moll und Dur schockhaft aufeinande­rtreffen können: höchste pianistisc­he Kunst und musikalisc­he Klugheit.

Der 45-minütige Zugabenrei­gen zeigte das Ziel dieser Entwicklun­g bei Schubert und Chopin: das einzelne Charakters­tück des 19. Jahrhunder­ts, seinerseit­s in Zyklen zusammenge­fasst. Viel Jubel.

Newspapers in German

Newspapers from Austria