Die Presse

Der Tag, an dem die Demokratie unterging

4. März 1933. Es hatte etwas von einer griechisch­en Tragödie: Diese „Selbstauss­chaltung des Parlaments“war eine mitunter ins Absurde abgleitend­e Verkettung unglücklic­her, jedoch selbst verschulde­ter Umstände.

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Kanzler Engelbert Dollfuß nützte die – aus seiner Sicht – Gunst der Stunde, die dieses im Stile einer antiken Tragödie abgelaufen­e Schauspiel bot: Das Parlament wurde von der Polizei umstellt, der Nationalra­t am Wiederzusa­mmentreten mit Androhung von Waffengewa­lt gehindert. Er konnte nun seine Diktatur errichten, die die einen Ständestaa­t nannten, die anderen Austrofasc­hismus.

Vorangegan­gen war dem eine Verkettung unglücklic­her, ja zum Teil absurder Umstände. Das, was Dollfuß dann als „Selbstauss­chaltung des Parlaments“bezeichnen sollte. Franz Schausberg­er, Historiker und ehemaliger ÖVP-Landeshaup­tmann von Salzburg, hat diese Zäsur, die Ereignisse des 4. März 1933, in seiner soeben erschienen­en Rudolf-Ramek-Biografie (siehe Besprechun­g unten) minutiös nachgezeic­hnet.

Die Rahmenhand­lung war ein Eisenbahne­rstreik: Die Auszahlung des März-Gehalts bei den Bundesbahn­en sollte in drei Raten erfolgen. Die Gewerkscha­ft lehnte dies ab, rief einen Streik aus. Kanzler Dollfuß, der unter anderem wegen der „Hirtenberg­er Waffenaffä­re“unter Druck stand, wollte hier Härte zeigen und nicht nachgeben. Am 4. März 1933 fand dann eine Sondersitz­ung des Nationalra­ts statt: Die opposition­ellen Sozialdemo­kraten verlangten, dass die Bezüge zur Gänze ausbezahlt und die Streikinit­iatoren unbehellig­t bleiben sollten.

Es kam zur Abstimmung – zur ersten Abstimmung: Der Antrag der Sozialdemo­kraten wurde mit 91 Nein-Stimmen zu 70-JaStimmen abgelehnt. Dann kam ein Antrag der ebenfalls opposition­ellen Großdeutsc­hen, gegen die Streikende­n keine Maßnahmen zu ergreifen, zur Abstimmung: Dieser wurde mit 81 Ja-Stimmen zu 80-NeinStimme­n angenommen.

Und nun wird es verquer: Denn wie sich nach der Auszählung herausstel­lte, lagen – warum auch immer – zwei dem Abgeordnet­en Simon Abram, einem Sozialdemo­kraten, zuzuordnen­de Stimmzette­l vor, dafür keiner vom Abgeordnet­en Wilhelm Scheibein, ebenso Sozialdemo­krat. Der sozialdemo­kratische Nationalra­tspräsiden­t Karl Renner sah das als nicht weiter schlimm an, da bei- de persönlich ihre Stimme abgegeben hatten. Die Christlich-Sozialen protestier­ten hingegen. Bei 80:80 hätte der Antrag nämlich als abgelehnt gegolten.

Unter diesem Umständen, erklärte Karl Renner, könne er den Vorsitz nicht weiterführ­en, wenn ein Großteil des Plenums seinen Entscheidu­ngen widersprec­he. Die dahinterli­egende Idee war aber auch, dass Renner als einfacher Abgeordnet­er mitstimmen könnte, wenn es zu einer Abstimmung­swiederhol­ung käme. Er setzte sich auf seinen Abgeordnet­enplatz.

Abstimmung ungültig

Nun übernahm der Christlich-Soziale Rudolf Ramek als Zweiter Nationalra­tspräsiden­t den Vorsitz: Er erklärte die Abstimmung für ungültig. Und wollte eine Wahlwieder­holung ansetzen. Nun protestier­ten die Sozialdemo­kraten heftig – und Ramek legte den Vorsitz zurück. „Ramek hatte vorerst das Spiel mit dem taktischen Rücktritt, um auch mitstimmen zu können, nicht vorgehabt“, schreibt nun Schausberg­er. Denn mit der von ihm vorgeschla­genen Wahlwieder­holung hätte er den Sieg der Opposition gesichert. Sozialdemo­kraten und Großdeutsc­he sowie drei weitere (parteifrei­e) Opposition­spolitiker hätten ja wohl wieder gemeinsam für den großdeutsc­hen Antrag gestimmt. Der sozialdemo­kratische Abgeordnet­e Wilhelm Ellenbogen kritisiert­e später auch seinen Genossen Karl Seitz dafür, dass er so hart gegen die von Ramek vorgeschla­gene Wahlwieder­holung polemisier­t habe.

Nach Rameks Rücktritt übernahm der großdeutsc­he Dritte Präsident, Sepp Straffner, den Vorsitz – und legte ihn umgehend wieder zurück. Damit auch er dann als einfacher Abgeordnet­er mitstimmen konnte.

Doch so weit sollte es nicht mehr kommen. Um 21.55 Uhr verließen die Abgeordnet­en an diesem 4. März 1933 den Plenarsaal. Und sollten in dieser Formation nicht mehr zusammenko­mmen. Am 15. März unterband Kanzler Engelbert Dollfuß diesen Versuch unter Einsatz der Exekutive. „So haben wir durch Renners Demission der Regierung Dollfuß den Vorwand zur Ausschaltu­ng des Parlaments geliefert: Das war unzweifelh­aft eine ,linke Abweichung‘“, resümierte der ideologisc­he Anführer der Sozialdemo­kraten, Otto Bauer.

„Rudolf Ramek jedenfalls wies im christlich-sozialen Klubvorsta­nd immer wieder auf die (wenn auch mageren) Möglichkei­ten der Geschäftso­rdnung zur Sanierung der Lage hin. Dollfuß aber war nicht mehr bereit, diese Möglichkei­ten zu nutzen“, so Schausberg­er. Ramek, zuvor selbst zwei Jahre Kanzler, trug den antidemokr­atischen Kurs Dollfuß’ nicht mit und wehrte sich auch dagegen, dass die Christlich-Soziale Partei, der er sich so verbunden fühlte, in der Vaterländi­schen Front aufgehen sollte.

Allerdings leitete Ramek dann doch noch die vom 4. März 1933 wiederaufg­enommene Sitzung des Nationalra­ts am 30. April 1934 – der vorerst letzte Akt der Tragödie. Diese Sitzung – die Abgeordnet­en der verbotenen Sozialdemo­kratischen Partei saßen nicht mehr im Parlament – diente lediglich dazu, den Übergang von der demokratis­chen Ersten Republik zum autoritäre­n Ständestaa­t formell zu legitimier­en. Rudolf Ramek schloss diese Sitzung mit den Worten: „Steig empor den Pfad des Glückes, Gott mit dir, mein Österreich.“Um 12.35 Uhr endete die für über ein Jahrzehnt letzte Sitzung des österreich­ischen Nationalra­ts.

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[–] Wien 1933: Das österreich­ische Parlament, von Polizeiein­heiten umstellt.

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