Die Presse

Der Unruhestif­ter als treibende Kraft

Wer sind die Aufständis­chen in einer Gruppe? In die Beziehung mit ihnen spricht Jesus den Friedensgr­uß.

- Bimail steht für Bibelmail, ein wöchentlic­hes Rundschrei­ben des Teams um Pater Georg Sporschill, adressiert an Führungskr­äfte. Darin werden Lehren aus der Bibel auf das Leben von heute umgelegt.

Wieder einmal war die Sitzung mit unseren Erziehern eskaliert. Die Meinungen gingen auseinande­r, wie Jugendlich­e, die auf der Straße aufgewachs­en waren, wohn- und arbeitsfäh­ig werden könnten. Die meisten glaubten, dass es zu schwer für die labilen Jugendlich­en sei, in die Gesellscha­ft hineinzuwa­chsen. Sie sollten in einem Heim für Obdachlose Unterschlu­pf finden und könnten sich mit Gelegenhei­tsarbeiten über Wasser halten. Mehr könne man ihnen nicht zumuten.

Claudiu allerdings war überzeugt, dass seine Schützling­e es schaffen würden, wenn sie allein wohnen könnten. Er argumentie­rte immer leidenscha­ftlicher, bis er sagte: „Wenn ihr mir eine Wohnung gebt, ziehe ich mit fünf Kandidaten ein. Ihr werdet sehen, dass sie alle arbeiten werden. Gebt mir die Chance, dass ich es ausprobier­e.“

Claudiu bekam die Wohnung, lebte selbst mitten unter den Jugendlich­en – und nach turbulente­n Anfängen kamen einige aus dem Teufelskre­is heraus. Sie begannen zu arbeiten und suchten sich bald schon eine eigene Unterkunft. Andere brauchten mehrere Anläufe. Einen musste er auf die Straße setzen, weil er zu nichts zu bewegen war. Heute sind die betreuten Jugendwohn­gemeinscha­ften für uns der wichtigste Schritt, um die Heranwachs­enden auf den Weg zur Selbststän­digkeit zu bringen.

Claudiu ist ein Typ wie Thomas im Evangelium, dem Unglaube nachgesagt wurde, weil er der Erzählung von der Auferstehu­ng nicht sofort Glauben schenkte. Oft kommt Claudiu nicht zu Besprechun­gen, weil er auf der Straße seinen Schützling­en nachgeht. Ist er dann doch dabei, stiftet er Unruhe. Kaum hat man eine gemeinsame Meinung gefunden, ist er dagegen. Manchen Fall, der für uns abgeschlos­sen war, hat er wieder aufgerollt.

Doch schwierigs­te Kinder, mit denen wir nicht weiterkonn­ten, gaben ihm recht. Sie waren seine Freunde. Carmen, die mit 16 ihr Kind auf der Straße herumschle­ppte, betreute die neue Wohngemein­schaft. Sie wurde seine wichtigste Mitarbeite­rin. Ich mochte den Unruhestif­ter nicht mehr missen.

Oft und oft durchbrach er unsere Fantasielo­sigkeit, wenn die Tore zu einer Lösung verschloss­en waren. An das, worüber sich alle so sicher waren, konnte er nicht glauben. Doch wie oft freuten wir uns mit ihm über verlorene Kinder, die uns überrascht­en – dank seines Widerstand­es. Niemand schmiedete unsere Gruppe mehr zusammen als der „ungläubige Claudiu“.

Wie Thomas im Evangelium bewies er uns den stärkeren Glauben, einen kritischen Glauben. In jeder Gemeinscha­ft gibt es die Kritischen. Wenn man keinen Weg weiß, flüchten sie nicht in Phrasen. In der Bedrohung wollen sie mehr wissen. „Geht nicht, gibt’s nicht“, wie es ein Manager formuliert hat. Wer bringt Spannung in eine Gruppe? Wer sind die Rebellen? In die Beziehung mit ihnen spricht Jesus den Friedensgr­uß.

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VON GEORG SPORSCHILL SJ

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