Wie viel Gewalt braucht Religion?
Wir Europäer haben, trotz Befriedung in Glaubensbelangen, nicht vergessen, dass es vielfältige Faktoren gibt, welche einen Zusammenhang zwischen Religion und Gewalt stiften. Wir dachten nur nicht daran, in welchem Umfange dieser Zusammenhang wieder aktuell und im Nahbereich bedrohlich werden könnte.
Dass Religion, zumal in jener Form, die wir als „Großreligion“kennen, zur Gewalt neigt, braucht eigentlich nicht näher erläutert zu werden. Zunächst reagieren religiöse Ideen und Praktiken auf den Umstand, dass die Welt das „Tal der Tränen“ist, welches wir durchschreiten müssen, voller Schmerz, den wir nicht vermeiden können, voller Leiden, die wir uns selbst zufügen, voller Schrecken, Irrungen und Wirrungen. Und am Ende eines jeden Lebens steht ein katastrophales Ereignis, der Tod, der von Leibniz unter die metaphysischen Übel gezählt wurde. Wie dem allen entgehen unter Bedingungen, die noch keine technischen Lösungen kennen?
Bei den Azteken, die den spanischen Eroberern Anfang des 16. Jahrhunderts zum Opfer fallen, stürzten sich vorzeiten Götter in das göttliche Feuer der Sonne, um diese zu nähren und zum Laufen zu bringen; später dann musste das Blut der geopferten Menschen, die schließlich in die Tausende gingen, für göttlichen Nahrungsnachschub und den Fortbestand des kosmischen Kreislaufs sorgen. Die großflächige Hölle auf Erden bricht indessen erst los, sobald sich, zum Vorteil priesterlicher Großinstitutionen, kirchliches Gewaltkalkül mit staatlicher Macht verbündet. Missionierungsfeldzüge bringen über die Jahrhunderte viele Millionen Tote und Sklaven hervor. Dabei sind die Brutalitäten einerseits durchsetzt von heilsgeschichtlichen Fantasien – die Welt muss vom Unglauben gereinigt werden –, andererseits werden auf banalste Weise die weltlichen Expansions- und Ausbeutungsgelüste der jeweils Mächtigen befriedigt. Dass man die religiös Schwachen, Wankelmütigen und Widerstrebenden am besten bei der dogmatischen Stange hält, indem man in ihr Leben das Flämmchen der Furcht vor inquisitorischer Folter, rechtgläubiger Auslöschung jedweder Häresie und, nicht zuletzt, vor der ewigen Verdammnis pflanzt – auch diese Methode aus dem Arsenal religiöser Schrecken ist uns von der eigenen Geschichte her wohlbekannt.
Obwohl wir das alles nicht vergessen haben, wurde in den christlichen Ländern Europas seit Längerem doch eine Mentalität als mehr oder weniger selbstverständlich empfunden, die auf zwei Säulen ruht. Die erste Säule: Sie bildet das Rückgrat jener aufgeklärten Kirche, die Immanuel Kant die wahre nannte. Die „wahre Kirche“benötigt, so Kant, keine „Vorsteher“, sie huldigt weder dem „Afterglauben“, noch praktiziert sie einen „Fetischdienst“. Ihre Dogmen sind vielmehr solche, die innerhalb der Grenzen der menschlichen Vernunft nicht nur nicht als widervernünftig, sondern im Gegenteil als geboten erscheinen. Daher erhebt die kantische Kirche mit Bezug auf ihre Glaubensüberzeugungen einen strikten Anspruch auf Universalität. Wie aber ist ein solcher Anspruch einlösbar? Nun, wenn überhaupt, dann dadurch, dass es sich um ethische und metaphysische Überzeugungen handelt, denen alle Menschen kraft ihrer moralischen Bedürfnisse, existenziellen Gefühle und formalen Vernunftgründe zustimmen können sollten – sollten, auch wenn sie aus menschlichen, allzu menschlichen Gründen nicht können, beispielsweise aus Indoktrination, Traditionsanhänglichkeit, Gewohnheit,
Man wird Kant gewiss nicht darin folgen wollen, dass die universale Religion eine exklusive Angelegenheit der Vernunft sei – das trifft nicht einmal auf die Ethik zu, die ohne Affekte undenkbar wäre. Und doch hat Kants „Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft“(1793/94) einen zentralen Punkt jenes Christentums angesprochen, das sich in der Neuzeit mit dem Humanismus und der Aufklärung zusehends versöhnte. Es ist die Überzeugung, dass die wahre Religion sich auf gewaltlose Weise allen verständigen Menschen guten Willens als die beste Lebensform nahelegen müsste.
Die zweite Säule: Im Laufe der Jahrhunderte voll totalitärer Schrecken hat sich eine christlich geprägte Mentalität geformt, wel- cher, zuerst abgerungen, dann verinnerlicht, ein toleranter Sinn für die Vielfalt des Lebens eignet. Demnach darf niemand deswegen seiner Selbstachtung oder gar seines Lebens beraubt, niemand darf verachtet und geächtet werden, bloß weil er einer religiösen Lebensform anhängt, die sich von der unseren – falls wir eine solche überhaupt praktizieren – unterscheidet. Nur wenn die Hinwendung zum Christentum freiwillig erfolgt, aus eigener Einsicht des Herzens und des Verstandes, also entlang des universalistischen Konzepts, dass Gott nur der Gott aller Menschen sein könne, ist sie frei vom Makel des Zwangsbekehrung; auch frei von möglicher Selbsttäuschung aus dem Bedürfnis heraus, einer autoritären Gesinnungsgemeinschaft anzugehören.
Beide Säulen zusammen, der gewaltlose Glaubensuniversalismus und die darin gründende, interreligiöse Toleranz, ergeben erst jenen Frieden, an den wir uns unter der Bedingung einer konsensfähigen Trennung von Staat und Religion gewöhnt haben. Nun sind wir, nach dem letzten bestialischen Balkankrieg, mit dem weltweiten Phänomen des islamistischen Terrors konfrontiert (dem sich kürzlich die ethnische Säuberung des mehrheitlich buddhistischen Staates Burma respektive Myanmar von seiner muslimischen Minderheit hinzugesellte). Und wir müssen zur Kenntnis nehmen, dass der radikale Islam kein Interesse an einer Überprüfung seiner Glaubensgehalte am Leitfaden eines friedlichen religiösen Zusammenlebens und auf der Suche nach universalen Glaubenswahrheiten hat.
Da sowohl das Christentum als auch der Islam monotheistische Religionen sind, die an einen Gott der Liebe und Barmherzigkeit glauben, berufen sich beide – unter einer konsequenten Optik des Übernatürlichen – auf den Gott aller Menschen. Diese Gottesvorstellung kann jedoch durch historische Kurzschlüsse blockiert und ausgeblendet werden mit dem Ziel, die jeweils andere Glaubensposition zu verteufeln. Erst so gelingt es, die Archaismen in den heiligen Schriften zu konservieren (exemplarisch wird im Buch Levitikus die Todesstrafe für praktizierte Homosexualität gefordert, worauf sich heute der christliche Fundamentalismus guten Gewissens beruft); es wäre indessen vonnöten, all jene Kapitel zu neutralisieren, welche die Bekämpfung und Vernichtung des Glaubensgegners oder Häretikers fordern.
Da der Islamist jede Trennung von Staat und Religion, Macht und Dogma ablehnt, ist es ihm ein Leichtes, militärische Offensivstrategien, die Zugang zu wertvollen Ressourcen oder geopolitisch nützlichen Orten verschaffen, als heilige Kriege zu tarnen – wie einst das Christentum auch. Darüber hinaus wird der Islam, der in den westlichen Demokratien heimisch und deshalb zumindest halbherzig integriert ist, zusehends von der Verlockung beherrscht, das politische System in seinem Sinne, dem Sinne einer sanften Scharia, umzuformen. Dahinter steht der eiserne Wille der Muslimbruderschaft und anderer internationaler Befürworter eines islamischen Staates. Michel Houellebecqs „Soumission“darf durchaus als Prophetie gelesen werden. Es ist vermutlich nur eine Frage der Zeit, bis sich in Österreich eine Partei konstituiert, die von Österreichern muslimischen Glaubens, namentlich türkischstämmigen, als die ihre angesehen wird.
Wenn der Westen diese Eventualität realistisch einschätzt, dann muss er darauf reagieren. Aber wie, ohne nicht die religiöse Gewalt hierzulande anzustacheln und – im Rahmen einer sich zusehends totalitär gebärdenden Überwachungsdemokratie – bürgerkriegsähnliche Szenarien zu befördern? Darauf gibt es natürlich kein einfaches Rezept. Das ist eine triviale Erkenntnis; mir kommt aber vor, dass wir – aus keineswegs nur achtbaren Motiven – die Selbstachtung der in Europa lebenden Muslime dadurch verletzen, dass wir sie als klammheimliche Sympathisanten des Terrors etikettieren und ihre Art zu leben als eine verschleierte Bekundung dieser Sympathie entschlüsseln.
Die Stimmungsmache mancher Kolumnisten, wonach es an der Zeit sei, für weniger Demokratie und mehr Sicherheit zu sorgen, wirkt als Brandbeschleuniger des Hasses. Ebenso ist das Modephänomen des Public Crying, das sich um jedes Terroropfer kerzen- und blumenreich entfaltet, nicht unbedingt hilfreich. Zuerst fließen die Tränen, und bevor sie getrocknet sind, wächst bereits ein verallgemeinerter Abscheu, der unter islamischen Kopftüchern und hinter schwarzen Vollbärten die mörderischen Feinde des eigenen way of life zu erkennen vermeint.
Dass jedweder Terror, der sich religiös legitimiert, und allgemein jede ernsthafte Bedrohung des Religionsfriedens rechtsstaatlich nicht zu tolerieren sind, scheint selbstverständlich. Ebenso sind alle Versuche zu unterbinden, im Privatrecht die Normen der Scharia salonfähig zu machen – etwa bei Erbrechtsangelegenheiten. Dasselbe gilt für das Öffentliche Recht unter dem Aspekt eines ordre public. Exemplarisch gesprochen: Unser Lebensstil und unsere moralische ebenso wie staatliche Norm schließt die Ehe eines Mannes mit mehreren Frauen aus. Selbstverständlich scheint auch, dass bei allen Vorkehrungen gegen den Abbau liberaldemokratischer Grundrechte und Gepflogenheiten diese dann
Qnicht leichtfertig geopfert werden dürfen – nämlich mit der Begründung, eben ihren Schutz zu gewährleisten.
Allerdings überschreiten, wie bereits Karl Popper in seinem „Paradox der Toleranz“formulierte, solche Parteien und – neuerdings wieder – „Bewegungen“unseren Toleranzbereich, welche die demokratischen Rechte und Gepflogenheiten nutzen, um, erst an die Macht gekommen, sie dann schrittweise zu beseitigen. In diesem Licht ist es durchaus kritisch zu sehen, dass in seinem jüngsten Urteil zur NPD, einer eindeutig nazistischen Organisation, der deutsche Verfassungsgerichtshof diese, obwohl eindeutig als verfassungswidrig eingestuft, trotzdem nicht verbot, und zwar, verkürzt gesagt, mit dem Argument ihrer Bedeutungslosigkeit. Gewaltbereitschaft ist Gewaltbereitschaft, ob nationalistisch, rassistisch oder religiös motiviert. Das muss zur unabdingbaren Prinzipienausstattung einer jeden wehrfähigen Demokratie gehören.
Was beim Thema „Religion und Gewalt“zu fragen bliebe – und leider viel zu wenig gefragt wird –, ist jedenfalls, inwiefern es vorstellbar sei, dass die Idee des Gottes aller Menschen, das heißt das Symbol des religiösen Universalismus und der interreligiösen Toleranz, für die Milliarden Menschen, die unseren Erdball bevölkern, dauerhaft erträglich wäre. Denn mit dem inklusiven Monotheismus – um die Formel Jan Assmanns zu bemühen – geht einher, dass sich die jeweilige rituelle und dogmatische Signatur, einfach gesagt: die religiöse Lebensform der verschiedenen Konfessionen, nicht mehr als exklusiv heilsbringend verstehen lässt.
Ebenso wird dann der gewaltige Einspruch gegen unsere Endlichkeit, die Hoffnung auf Erlösung und ewiges Leben, unausweichlich zu jenem blassen Optimismus verdünnt, der Goethe sagen ließ, er fürchte sich nicht vor dem Tod, weil dieser dem „Geist“– was immer der Dichterfürst darunter gemeint haben mag – nichts von seiner Realität nehmen könne. Ungefähr auf dieselbe Weise ist jedenfalls im Idealismus vom Weltgeist die Rede – und dieser war noch nie geeignet, den Massen Trost zu spenden, ihnen Geborgenheit im Schlechten zu vermitteln oder sie gar zu entflammen.
Damit ist zugleich der schwierige Weg eines universalreligiösen Friedens vorgezeichnet: Die Idee des Gottes aller Menschen verkörpert sich vornehmlich in Ethik und Poesie, im Ideal der Menschheit als Solidargemeinschaft; er verkörpert sich hingegen nicht im Dogma, welches die Scheidelinie zwischen Rechtgläubigen und den anderen, die nicht in der Huld Gottes stehen, vorgibt. Am Ende bleibt uns – hoffentlich – Friedfertigen, bei aller Unwahrscheinlichkeit des Gelingens, nichts anderes zu tun, als den Weg des inklusiven Monotheismus fortzusetzen, sofern wir religiös sind.
Sind wir nicht religiös, dann hätten wir immerhin allen Grund, dem religiösen Teil der Menschheit Friedfertigkeit und Toleranz als die einzigen Mittel anzuempfehlen, um unser Leben auf Erden einigermaßen wohlbefindlich zu verbringen. Religiöse Agnostik schließt eine Sensibilität für die metaphysischen Fragen unserer Existenz keineswegs aus; zugleich schließt die Forderung nach Frieden und Toleranz ein, allen Menschen dieser Erde die Chance auf ein wohlbefindliches Leben zu gewähren – andernfalls aus religiösen Differenzen blutige Schlachten werden, die scheinbar im Dienste des Gottes aller Menschen geführt werden.
Gewiss, Forderungen sind billig, allzu billig, solange hinter ihnen nicht der unbedingte Wille steckt, die schlechten und breitflächig schrecklichen Lebensverhältnisse eines großen Teils der Menschheit tatsächlich zu verbessern. In diesem Sinne wäre es unsere – fast hätte ich gesagt „heilige“– Pflicht, das politische Establishment laufend unter humanitären Druck zu setzen, statt es dafür zu beklatschen, dass wir, die reichsten Staaten der westlichen Welt, uns der Ärmsten der Armen mit Routenschließungen, Stacheldrähten, insularen Internierungen und Schlimmerem erwehren.
Besonders verantwortungslos ist die Forcierung einer sogenannten Verantwortungsethik, wonach Europa, gegen das karitative Gesinnungsdenken, zu einer Festung umzugestalten sei, bei primärer Befestigung des jeweils eigenen Landes. Denn der Weg der Abschottung führt auf Dauer immer wieder nur zu jener Gewalt, welche die Menschen für ein Heilsdenken anfällig macht, an dessen Ende ein religiös oder national ausgelegte Vernichtungshandeln steht, oder womöglich, im blutigen Zusammenspiel, das eine wie das andere – in jedem Fall: ein neuer Höllensturz der Humanität.