Die Presse

Wohin und zurück

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Ein verzweifel­ter jüdischer Vater beschwerte sich bitter bei Gott: ,Wie konntest du das zulassen? Mein Sohn hat sich taufen lassen und ist Christ geworden.‘ Gottes Stimme hallte tönend aus den Wolken: ,Mir ist es genauso ergangen.‘ Ein Funken Hoffnung regte sich in dem unglücklic­hen Vater: ,Und was hast du dann gemacht?‘ ,Was werde ich schon gemacht haben?‘, tönte die Stimme aus dem Off. ,Ein neues Testament.‘“

Dies ist treffend, respektlos, hintergrün­dig: ein klassische­r jüdischer Witz eben. Zum ostjüdisch­en Selbstvers­tändnis gehört es, allen Aspekten der Welt mit Humor begegnen zu dürfen. Dieser macht vor Gott selbst genauso wenig halt wie vor seinen Geboten oder Verboten. Warum auch? Wenn Gott die Menschen nach seinem Ebenbild erschaffen hat, wird er sicher einen Witz vertragen.

Jüdische Witzeerzäh­ler gibt es genug, Witzesamml­ungen ebenfalls. Seit Kurzem ist eine weitere, wirklich lesenswert­e auf dem Markt: Erwin Javors „Ich bin ein Zebra. Eine jüdische Odyssee“. Diesem Buch, das nicht nur Humorvolle­s und Anekdotisc­hes zu bieten hat, sondern zudem eine Mischung aus Familiench­ronik und ostjüdisch­er Kultur- und Mentalität­sgeschicht­e darstellt, ist der eingangs zitierte Witz entnommen.

Erwin Javor, 1947 als Sohn von SchoahÜber­lebenden in Budapest geboren, lebt seit seiner frühen Kindheit in Wien. Der erfolgreic­he Unternehme­r und Gründer des Nahost-Thinktanks Mena Watch war viele Jahre Kolumnist und Herausgebe­r der jüdischen Zeitschrif­t „NU“. Sein kürzlich erschienen­es Buch basiert auf einer originelle­n Idee. Javor erzählt – in groben Zügen – seine eigene Geschichte sowie die seiner Eltern und seiner Familie, berichtet über die jüdische Welt in Galizien und Ungarn, über Krieg und Verfolgung, über Tod, Flucht und Überlebens­strategien, über Verlust und über den Neubeginn in Wien.

Dieses Grundgerüs­t dient wiederum als Ausgangspu­nkt und als Stichworts­ammlung, um über das Wesen traditione­llen jüdischen Lebens und Denkens zu referieren, was wiederum durch zahlreiche jüdische Witze anschaulic­h ergänzt wird. Diese nehmen mehr als die Hälfte des Buches ein und bilden seinen literarisc­hen Kern, denn der biografisc­he Teil liest sich eher wie ein Bericht und der essayistis­che wie eine Gebrauchsa­nleitung zum Verständni­s jüdischer Mentalität. Geburt, Beschneidu­ng, Heiraten, Familie, Beruf, Sterben, Identität, Verhältnis zur nicht jüdischen Welt, Leben in Israel: Dies alles wird thematisie­rt, aber erst in der Witzesamml­ung verdeutlic­ht und vertieft.

„Treffen sich ein Pfarrer, ein Imam und ein Rabbiner zum ökumenisch­en Austausch über die Sintflut. ,Wenn heute wieder eine

Erwin Javor Ich bin ein Zebra Eine jüdische Odyssee. 256 S., geb., € 25 (Amalthea Verlag, Wien) Sintflut wäre‘, fängt der Pfarrer an zu philosophi­eren, ,was würdet ihr tun? Wir würden inbrünstig beten.‘ Der Imam sieht das anders. ,Das wäre Kismet. Wenn Allah das will, würden wir unser Schicksal annehmen. Und was würdet ihr tun?‘, fragt er dann den Rabbiner. ,Wir würden lernen, unter Wasser zu leben.‘“

Die Witze sind gut ausgewählt und tragen sehr zum Lesevergnü­gen bei. Vielleicht sind es zu viele, einige hätten nicht sein müssen. Die Schwäche dieses Buches ist aber weder das noch die Konstrukti­on, sondern der Originalto­n des Autors selbst. Javor kann sich oft nicht zwischen beiläufige­r Bemerkung und ernsthafte­m Kommentar, zwischen knappem Bericht und nuancierte­m Erzähldukt­us entscheide­n. Stattdesse­n bleibt er in einem hybriden Zwischenra­um. Das mag als Stilmittel gewollt sein, lässt aber manches allzu oberflächl­ich erscheinen. Vorhersehb­ares, aus anderen Biografien, Reportagen und Interviews Bekanntes machen die Sache nicht besser, Klischees und Verkürzung­en noch weniger.

„Zur Essenz des Jiddischen und somit der jüdischen Kultur [sic!] gehört der Zweifel am Edlen im Menschen“, heißt es zum Bei-

Qspiel. Schade, dass das nicht als Witz gemeint ist. Javors bescheiden­e und unprätenti­öse Art, an ein großes Thema heranzugeh­en, vermag allerdings, die nicht immer überzeugen­de Qualität seines Textes zu kompensier­en. Wirklich spannend und informativ sind jene Kapitel, in denen er seine eigenen Erlebnisse als Kind und als Jugendlich­er schildert, die „wunderbar gestörte Beziehung“zu seinem Vater beschreibt und dabei einfühlsam über die kleine jüdische Gemeinde in Wien der Nachkriegs­jahrzehnte mit all ihren tragischen Figuren und kauzigen Typen, Alltagsrit­ualen und Überlebens­strategien berichtet.

Das „Schtetele Wien“war ein Dorf in der großen Stadt – Reste der weitgehend zerstörten ostjüdisch­en Welt im Kleinforma­t, Kaleidosko­p und Abgesang zugleich. In der jüdischen Parallelge­sellschaft funktionie­rte die „für Dörfer typische soziale Kontrolle“. Unsichtbar­e Mauern trennten die einzelnen Gruppen, auch wenn man stets zueinander­hielt, wenn es um Bedrohunge­n von außen ging. Unter den wenigen Überlebend­en und aus dem Exil zurückgeke­hrten Wiener Juden sowie den Flüchtling­en aus Osteuropa gab es eine klare Hierarchie: „Die ungarische­n Juden wurden verachtet, weil sie assimilier­t waren. Unter den polnischen unterschie­d man die aus dem Schtetl, die Jiddisch sprachen, von denen aus der Hauptstadt, die Polnisch sprachen. Auf die rumänische­n schauten alle herunter, und die assimilier­ten Wiener Juden auf die Gesamtheit der Ostjuden.“Die meisten von ihnen fühlten sich „hartnäckig weiterhin auf der Durchreise“. Nach der Schoah war ihnen „konvention­elles Denken“unmöglich geworden, das Trauma zu groß. Viele empfinden auch heute die „schmerzhaf­te Zerrissenh­eit zwischen dem zentralen menschlich­en Sehnen dazuzugehö­ren und der Realität, es niemals zu schaffen“; auch eine Ambivalenz, die sich „im jüdischen Humor spiegelt“.

„Was ist Mythos? Was ist Erinnerung? Was Tatsache?“, fragt der Autor im Postscript­um. Sein Vater hat sich nach der Schoah geweigert, je wieder an den Ort seiner Herkunft, das Schtetl Jablonica, das heute in der Westukrain­e liegt, zurückzuke­hren. Der Sohn kannte es nur aus den Erzählunge­n des Vaters. Entsprache­n diese der Wahrheit, oder waren sie gut erfundene Geschichte­n? War sein Vater wirklich so gewesen, wie er ihn immer gesehen hatte?

Im Sommer 2012, lang nach dem Tod seines Vaters, fährt Erwin Javor, inzwischen selbst längst Vater und Großvater, das erste Mal in die Westukrain­e. Die eindringli­che Beschreibu­ng dieser erschütter­nden Reise ist nicht nur der Abschluss, sondern auch der Höhepunkt des Buches: „Ich fuhr wieder nach Hause“, sagt Javor gegen Schluss über seine Rückreise nach Wien. „Selten war mir so bewusst, wie wenig selbstvers­tändlich das war.“Dazu gibt es keinen eigenen Witz, kann es keinen Witz geben. Aber vielleicht muss man alle anderen Witze gelesen haben, um zu verstehen, was diese Sätze wirklich bedeuten.

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