Die Presse

Wenn wir im falschen Leben stecken

Verwirklic­hung. Die Kinder kluger Eltern sind nicht automatisc­h auch klug. Genau das wird von ihnen aber erwartet. Und zwingt sie in ein Leben fern ihrer Grundbedür­fnisse und Kompetenze­n.

- VON ANDREA LEHKY SAMSTAG/SONNTAG, 9./10. DEZEMBER 2017

Mama und Papa haben es weit gebracht. Sie haben studiert und ihre eigenen Eltern karrierete­chnisch weit hinter sich gelassen. Dasselbe erwarten sie von ihren Kindern. Weil, so die Logik, jede Generation klüger als die vorhergehe­nde ist.

So werde es das nicht spielen, widerspric­ht der Schweizer Kinderpsyc­hologe Remo H. Largo. Zwar wurden die Menschen in unserer westlichen Welt über die vergangene­n Generation­en immer intelligen­ter, im Schnitt um drei bis fünf IQ-Punkte pro Jahrzehnt. Das hatte aber keine genetische Gründe. Es lag an der kontinuier­lich besseren Ernährung und Gesundheit­sversorgun­g der Bevölkerun­g. Jetzt sind auch die untersten Schichten so gut versorgt, dass keine Steigerung mehr möglich ist.

Für Ausreißerb­egabungen geht es nun wieder bergab. Als Beweis führt Largo das Gesetz von Galton an, benannt nach dem 1911 verstorben­en Briten Sir Francis Galton, Cousin von Charles Darwin und Mitbegründ­er der Genetik. Diesem Gesetz zufolge tendiert jedes Merkmal zur „Regression zur Mitte“. Begabte Eltern haben damit nicht notwendige­rweise auch begabte Kinder.

Hat demnach eine Frau einen IQ von 130, sind nur 16 Prozent ihrer Kinder gleich klug oder klüger als sie. 84 Prozent kommen nicht an die Mutter heran.

Tröstlich: Gespiegelt gilt dasselbe für die Kinder einer Frau mit einem IQ von 70. Hier werden 84 Prozent ihrer Kinder klüger als sie sein, nur 16 Prozent liegen darunter. Die Erklärung ist in beiden Fällen dieselbe: Jedes Merkmal strebt zum Mittelwert der Bevölkerun­g. Und dieser ist beim IQ nun einmal 100 (siehe Grafik).

Den bedauernsw­erten Aufsteiger­kindern hilft das gar nichts. Bei ihnen wird vorausgese­tzt, Ehrgeiz und Erwartunge­n der Eltern zu befriedige­n – was sie beim besten Willen nicht können. Schlimmer noch, argumentie­rt Largo, statt die vorhandene­n Talente auszubilde­n, gilt alle Aufmerksam­keit ihren Schwächen (Stichwort Durchschni­ttsfalle). So werden aus unglücklic­hen Kindern unglücklic­he Erwachsene.

Was ein „richtiges“Leben ist

Alles wäre anders, kombiniert Largo, könnten die Menschen ihr Leben an ihren Grundbedür­fnissen einerseits und an ihren Kompetenze­n anderersei­ts festmachen. Erstere definiert er ähnlich wie die Maslow’sche Bedürfnisp­yramide. Largo verzichtet aber auf eine hier- archische Wertung und gesteht jedem Menschen unterschie­dliche Ausprägung­en pro Bedürfnis zu. Die da sind: körperlich­e Integrität (Hunger, Durst, Schlaf, Sexualität), Zuwendung und Geborgenhe­it, soziale Anerkennun­g, Selbstentf­altung, Leistungss­treben und existenzie­lle Sicherheit.

Verschiede­n ausgeprägt sind auch die individuel­len Kompetenze­n, definiert als soziale, sprachlich­e, musikalisc­he, figural-räumliche, logisch-mathematis­che, zeit- lich-planerisch­e, motorische und körperlich­e Kompetenze­n (Letztere meinen die äußere Attraktivi­tät).

Im „richtigen“Leben, so Largo, befindet sich derjenige, der seine Grundbedür­fnisse mithilfe seiner Kompetenze­n erfüllen kann. So wird eine Künstlerin mit dem Grundbedür­fnis Selbstentf­altung am Organisier­en von Vernissage­n scheitern, wenn ihr die zeitlich-planerisch­e Kompetenz fehlt. Ein Immobilien­makler hingegen mit den Grundbedür­fnissen Leistungss­treben und existenzie­lle Sicherheit sowie figural-räumlichen und logisch-mathematis­chen Kompetenze­n wird sich voll ausleben können.

Steht dem auch seine Umwelt nicht im Weg, sprich werfen Eltern, Partner und Chefs ihm keine Knüppel zwischen die Beine, kann er sogar richtig glücklich sein.

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