Mit einem zarten Hauch von Nostalgie
Chanson. Charles Aznavour triumphierte in der Wiener Stadthalle vor so vielen Menschen wie niemals zuvor in Österreich. Davor traf der 93-jährige Schauspieler und Chansonnier „Die Presse“, um über seine Kunst zu plaudern.
Auf seiner rechten Schulter haben schon viele berühmte Zeitgenossen ihre Hand für ein paar Augenblicke ruhen lassen. So entstanden in jüngster Zeit etwa Fotos, auf denen Granden wie Bob Dylan oder Mick Jagger ihr Pratzerl dort liebevoll parkten. Charles Aznavour, weltweit erfolgreicher Chansonnier, gilt als Phänomen. Von kleiner Statur, entwickelte er eine Kreativität und Zähigkeit, die sämtliche seiner direkten Konkurrenten von Jacques Brel bis Leo´ Ferre´ in den Schatten stellte.
Während jene nur mehr Erinnerung sind, steht Aznavour mit seiner Beharrungskraft immer noch im Zentrum des internationalen Showbusiness. Mit seinen 93 Jahren tritt er regelmäßig in den größten Sälen auf. Er verfügt nach wie vor über die Körperspannung eines Zirkusartisten. Sein Geist ist hell, einzig die Ohren schwächeln ein wenig. Auf der Bühne der Wiener Stadthalle waren drei Teleprompter aufgestellt, über deren Monitore die Worte seiner Chansons flackerten. Im Ohr hatte er ein hochmodernes Hörgerät. Mit zartbitterem Zug um den Mund verlachte er coram publico die Bürden, die ihm das Alter auferlegt.
40 Lieder in der Schublade
Immer noch wiegt seine Schöpferkraft deutlich mehr als das Gewicht der Zeit. So hat er 40 neu geschriebene Lieder in der Schublade. Sein letztes Studioalbum „Encores“, eines der besten seiner langen Karriere, realisierte er vor zwei Jahren. Er werde weitermachen, weil er „das Leben und die Menschen liebt“. In der Stadthalle, in die so viele Menschen kamen, wie hierzulande noch nie bei einem Aznavour-Konzert, illustrierte er seinen Kampfgeist mit kleinen Tänzchen und vielen kraftvollen Gesten. Immer wieder ballte er die Faust, ließ seine Hände reden.
„Comment crois-tu qu’ils sont venus?“fragte er im ersten Lied – „wie glaubst du, sind sie gekommen?“Es ist kein Zufall, dass Aznavour dieser Tage seinen Liederreigen mit „Les E´migrants“eröffnet. Er selbst kam als Sohn eines armenischen Flüchtlingspaars 1924 in Paris zur Welt. In Kindheit und Jugend lernte er kennen, was es heißt, arm und ausgegrenzt zu sein. Deshalb singt er heute zuweilen ohne Gage für jene, die „mit leeren Taschen und bloßen Händen“gekommen sind, wie es in „Les E´migrants“heißt. Das Wiener Publikum, das bis zu 306 Euro zahlte, erinnerte er daran, dass das französische Leben durch frühere Auswanderungswellen immerhin so bedeutende Persönlichkeiten wie die Wissenschafterin Marie Curie und den Maler Pablo Picasso gewann.
Aznavour hat keine plumpe politische Agenda. In seinem mehr als 1200 Chansons umfassenden Lebenswerk geht es darum, Humanität zu etablieren. In vielen Chansons decouvrierte er liebevoll eigene und fremde Schwächen, philosophierte über die Liebe und das unerbittliche Verfließen der Zeit. „Je n’ai pas vus le temps passer“sang er zu einer weinenden Ziehharmonika, und später an diesem 23 Lieder umfassenden Abend kam noch das majestätische „Hier Encore“, das Shirley Bassey 1970 als „Yesterday When I Was Young“zum Welthit gemacht hat.
Aznavour hatte sich zu diesem Zeitpunkt seiner Show längst seines Jacketts entledigt. Lange ruhte seine Hand bei „Hier Encore“im Hosensack. Pathosfrei, aber mit nicht zu wenig Wehmut in der Stimme, staunte er über die Zeit. In trefflichen Bildern reflektierte er über sein jüngeres Selbst, das die Stunden achtlos vergeudete. Zur Mitte des Chansons drängte es die Hand dann aber doch noch an die Bühnenluft. Aznavour ließ den Zeigefin- ger kreisen, schlug sich auf die Leber, schnappte nach Unsichtbarem. „Les yeux cherchant le ciel mais le coeur mis en terre“– „Die Augen suchen den Himmel ab, aber das Herz liegt auf der Erde“brummelte er.
„Ein Chanson ist nicht ein Wort zu einem Ton, auch nicht ein Ton zu einem Wort. Es ist eine Idee, ein Gefühl, ein Nachdenken, eine Geschichte, ein Spiel mit Worten,“meinte er zur „Presse“. Gerade letzteres beherrscht er meisterhaft. Viele seiner Chansons muten multiperspektivisch an. Ein Gespinst verschiedener Aufmerksamkeiten fließt in ihnen unklar ineinander, während das jeweilige Grundthema paradoxerweise immer klarer wird. „Comme Ils Disent“, ein Chanson über die Einsamkeit eines Transvestiten, schrieb er in einer Zeit, in der es längst nicht schick war, öffentlich über Homosexualität nachzudenken. „Einen besonderen Anlass dafür gab es nicht,“sagte er im Gespräch mit der „Presse“, „ich nehme mir einfach das Recht heraus, über alles zu schreiben, was es gibt auf dieser schönen Welt. Eine Zeitlang machte es mir Spaß, Tabus zu brechen. Und einmal hab ich sogar ein Chanson geschrieben, das völlig ohne Gegenstand auskam.“Und setzt spitzbübisch nach: „Wer kann das, außer mir?“.
Das berühmte weiße Taschentuch
„Comme Ils Disent“(„Wie sie sagen“) war auch diesmal ein Höhepunkt von Aznavours intensivem Vortrag. Voll delikater Elegie war „L’Amour C’est Comme Un Jour“, ein Chanson, das die Flüchtigkeit der Liebe preist. Klassiker wie „La Mamma“, „Mourir D’Aimer“und „La Boh`eme“sorgten für köstliche Tränen und angenehmen Druck im Herzen. In „La Boh`eme“wachelte er mit dem berühmten, weißen Taschentuch, das sich danach prompt das vielleicht dienstälteste Groupie Mitteleuropas schnappte.
Er, der durch den sachten Wind seiner Torheiten, die Zeit nicht verfliegen sah, triumphierte im großen Finale mit hitziger Romantik in „Les Deux Guitares“und dem ewig sehnsüchtigen „Emmenez-moi“. „Il me semble que la mis`ere serait moins penible´ au soleil,“sang er seinen Fans zu. Niemand wagt zu glauben, dass das sein letztes Wien-Konzert gewesen sein könnte. Zu bubenhaft, zu lebendig wirkt dieser große Entertainer, der menschliche Schwächen wie Orden auf der Brust trägt. „Der Profi besteht ganz aus Beruf, der Amateur dagegen ganz aus Liebe,“sagt Aznavour. Überflüssig nachzufragen, auf welcher Seite der Meister steht.