Die Presse

Mit einem zarten Hauch von Nostalgie

Chanson. Charles Aznavour triumphier­te in der Wiener Stadthalle vor so vielen Menschen wie niemals zuvor in Österreich. Davor traf der 93-jährige Schauspiel­er und Chansonnie­r „Die Presse“, um über seine Kunst zu plaudern.

- MONTAG, 11. DEZEMBER 2017 VON SAMIR H. KÖCK

Auf seiner rechten Schulter haben schon viele berühmte Zeitgenoss­en ihre Hand für ein paar Augenblick­e ruhen lassen. So entstanden in jüngster Zeit etwa Fotos, auf denen Granden wie Bob Dylan oder Mick Jagger ihr Pratzerl dort liebevoll parkten. Charles Aznavour, weltweit erfolgreic­her Chansonnie­r, gilt als Phänomen. Von kleiner Statur, entwickelt­e er eine Kreativitä­t und Zähigkeit, die sämtliche seiner direkten Konkurrent­en von Jacques Brel bis Leo´ Ferre´ in den Schatten stellte.

Während jene nur mehr Erinnerung sind, steht Aznavour mit seiner Beharrungs­kraft immer noch im Zentrum des internatio­nalen Showbusine­ss. Mit seinen 93 Jahren tritt er regelmäßig in den größten Sälen auf. Er verfügt nach wie vor über die Körperspan­nung eines Zirkusarti­sten. Sein Geist ist hell, einzig die Ohren schwächeln ein wenig. Auf der Bühne der Wiener Stadthalle waren drei Teleprompt­er aufgestell­t, über deren Monitore die Worte seiner Chansons flackerten. Im Ohr hatte er ein hochmodern­es Hörgerät. Mit zartbitter­em Zug um den Mund verlachte er coram publico die Bürden, die ihm das Alter auferlegt.

40 Lieder in der Schublade

Immer noch wiegt seine Schöpferkr­aft deutlich mehr als das Gewicht der Zeit. So hat er 40 neu geschriebe­ne Lieder in der Schublade. Sein letztes Studioalbu­m „Encores“, eines der besten seiner langen Karriere, realisiert­e er vor zwei Jahren. Er werde weitermach­en, weil er „das Leben und die Menschen liebt“. In der Stadthalle, in die so viele Menschen kamen, wie hierzuland­e noch nie bei einem Aznavour-Konzert, illustrier­te er seinen Kampfgeist mit kleinen Tänzchen und vielen kraftvolle­n Gesten. Immer wieder ballte er die Faust, ließ seine Hände reden.

„Comment crois-tu qu’ils sont venus?“fragte er im ersten Lied – „wie glaubst du, sind sie gekommen?“Es ist kein Zufall, dass Aznavour dieser Tage seinen Liederreig­en mit „Les E´migrants“eröffnet. Er selbst kam als Sohn eines armenische­n Flüchtling­spaars 1924 in Paris zur Welt. In Kindheit und Jugend lernte er kennen, was es heißt, arm und ausgegrenz­t zu sein. Deshalb singt er heute zuweilen ohne Gage für jene, die „mit leeren Taschen und bloßen Händen“gekommen sind, wie es in „Les E´migrants“heißt. Das Wiener Publikum, das bis zu 306 Euro zahlte, erinnerte er daran, dass das französisc­he Leben durch frühere Auswanderu­ngswellen immerhin so bedeutende Persönlich­keiten wie die Wissenscha­fterin Marie Curie und den Maler Pablo Picasso gewann.

Aznavour hat keine plumpe politische Agenda. In seinem mehr als 1200 Chansons umfassende­n Lebenswerk geht es darum, Humanität zu etablieren. In vielen Chansons decouvrier­te er liebevoll eigene und fremde Schwächen, philosophi­erte über die Liebe und das unerbittli­che Verfließen der Zeit. „Je n’ai pas vus le temps passer“sang er zu einer weinenden Ziehharmon­ika, und später an diesem 23 Lieder umfassende­n Abend kam noch das majestätis­che „Hier Encore“, das Shirley Bassey 1970 als „Yesterday When I Was Young“zum Welthit gemacht hat.

Aznavour hatte sich zu diesem Zeitpunkt seiner Show längst seines Jacketts entledigt. Lange ruhte seine Hand bei „Hier Encore“im Hosensack. Pathosfrei, aber mit nicht zu wenig Wehmut in der Stimme, staunte er über die Zeit. In treffliche­n Bildern reflektier­te er über sein jüngeres Selbst, das die Stunden achtlos vergeudete. Zur Mitte des Chansons drängte es die Hand dann aber doch noch an die Bühnenluft. Aznavour ließ den Zeigefin- ger kreisen, schlug sich auf die Leber, schnappte nach Unsichtbar­em. „Les yeux cherchant le ciel mais le coeur mis en terre“– „Die Augen suchen den Himmel ab, aber das Herz liegt auf der Erde“brummelte er.

„Ein Chanson ist nicht ein Wort zu einem Ton, auch nicht ein Ton zu einem Wort. Es ist eine Idee, ein Gefühl, ein Nachdenken, eine Geschichte, ein Spiel mit Worten,“meinte er zur „Presse“. Gerade letzteres beherrscht er meisterhaf­t. Viele seiner Chansons muten multipersp­ektivisch an. Ein Gespinst verschiede­ner Aufmerksam­keiten fließt in ihnen unklar ineinander, während das jeweilige Grundthema paradoxerw­eise immer klarer wird. „Comme Ils Disent“, ein Chanson über die Einsamkeit eines Transvesti­ten, schrieb er in einer Zeit, in der es längst nicht schick war, öffentlich über Homosexual­ität nachzudenk­en. „Einen besonderen Anlass dafür gab es nicht,“sagte er im Gespräch mit der „Presse“, „ich nehme mir einfach das Recht heraus, über alles zu schreiben, was es gibt auf dieser schönen Welt. Eine Zeitlang machte es mir Spaß, Tabus zu brechen. Und einmal hab ich sogar ein Chanson geschriebe­n, das völlig ohne Gegenstand auskam.“Und setzt spitzbübis­ch nach: „Wer kann das, außer mir?“.

Das berühmte weiße Taschentuc­h

„Comme Ils Disent“(„Wie sie sagen“) war auch diesmal ein Höhepunkt von Aznavours intensivem Vortrag. Voll delikater Elegie war „L’Amour C’est Comme Un Jour“, ein Chanson, das die Flüchtigke­it der Liebe preist. Klassiker wie „La Mamma“, „Mourir D’Aimer“und „La Boh`eme“sorgten für köstliche Tränen und angenehmen Druck im Herzen. In „La Boh`eme“wachelte er mit dem berühmten, weißen Taschentuc­h, das sich danach prompt das vielleicht dienstälte­ste Groupie Mitteleuro­pas schnappte.

Er, der durch den sachten Wind seiner Torheiten, die Zeit nicht verfliegen sah, triumphier­te im großen Finale mit hitziger Romantik in „Les Deux Guitares“und dem ewig sehnsüchti­gen „Emmenez-moi“. „Il me semble que la mis`ere serait moins penible´ au soleil,“sang er seinen Fans zu. Niemand wagt zu glauben, dass das sein letztes Wien-Konzert gewesen sein könnte. Zu bubenhaft, zu lebendig wirkt dieser große Entertaine­r, der menschlich­e Schwächen wie Orden auf der Brust trägt. „Der Profi besteht ganz aus Beruf, der Amateur dagegen ganz aus Liebe,“sagt Aznavour. Überflüssi­g nachzufrag­en, auf welcher Seite der Meister steht.

 ?? [ APA / Herbert P. Oszeret ] ?? Charles Aznavour illustrier­te seinen Kampfgeist mit kleinen Tänzchen und vielen kraftvolle­n Gesten. Immer wieder ballte er die Faust, ließ seine Hände reden.
[ APA / Herbert P. Oszeret ] Charles Aznavour illustrier­te seinen Kampfgeist mit kleinen Tänzchen und vielen kraftvolle­n Gesten. Immer wieder ballte er die Faust, ließ seine Hände reden.

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