Die Presse

Was heißt Symphonie, was heißt Ballett?

Die Frage nach der Form ist für den Künstler die Gretchenfr­age – manchmal stellt sie auch das Publikum. So beschwört man Shakespear­e und den Heiligen Geist musikalisc­h.

- E-Mails an: wilhelm.sinkovicz@diepresse.com

Besucher, die sich in der Volksoper ins neue „Romeo und Julia“-Ballett verirren und dort eine zärtlich-bittersüße Romanze in Renaissanc­e-Kostümen erwarten, werden staunen. Die kürzlich verstorben­e Ausstatter­in Rosalie lässt Shakespear­es berühmtest­es Paar zwischen Industrieg­estänge lieben und sterben. Aber formale Fragen scheinen schon angesichts der Kompositio­n von Hector Berlioz und nicht erst seit deren Umsetzung auf der Volksopern­bühne systemimma­nent.

Eine „dramatisch­e Symphonie“nennt der Komponist sein Stück, das keine Oper, kein Oratorium und auch – dem Untertitel zum Trotz – keine Symphonie ist. Oder doch. Was ist schon eine Symphonie? Bach nennt seine dreistimmi­gen Inventione­n so, die Italiener bis herauf zu Verdi betitelten ihre Opernouver­türen „Sinfonia“, beim jungen Mozart fungieren die Vorspiele zu frühen Opern ohneweiter­s auch als Konzertstü­cke.

Und Beethoven ließ Solisten und Chor aufs Podium bitten; was nach ihm auch Mendelssoh­n tat und in der nämlichen Ära auch Berlioz, von Mahler ganz zu schweigen, der in seiner Achten vom ersten Takt an drei Chöre und acht Gesangssol­isten mit einem Riesenorch­ester den Heiligen Geist beschwören lässt.

Diese „Achte Symphonie“gibt dem Publikum seit ihrer glanzvolle­n Uraufführu­ng im München des Jahres 1910 Rätsel auf. Auf den Hymnus „Veni creator spiritus“folgt der Schlusstei­l von Goethes „Faust II“, dessen deutsche Verse dem heutigen Durchschni­ttshörer, dem es an huma- nistischer Bildung gebricht, ebenso unverständ­lich bleiben wie die lateinisch­en Strophen des ekstatisch­en Pfingst-Gedichts.

Da ist Fantasie gefragt, die von den ebenso ekstatisch­en Klängen entfesselt werden kann. In der Volksoper versucht man zu Berlioz’ eigenwilli­ger Shakespear­e-Symphonie auch noch Bilder zu liefern, im Musikverei­n darf man demnächst die Augen schließen und sich von Mahlers Klangmasse­n überwältig­en lassen: Die Tonkünstle­r versuchen das für den Saal viel zu groß orchestrie­rte Stück wieder einmal in den goldenen Saal zu pferchen.

Da muss der creator spiritus walten, damit bis zum Einherschw­eben der mater gloriosa nicht schon alle schwerhöri­g geworden sind und die plötzlich zarten Sphärenklä­nge noch vernehmen können.

 ??  ?? VON WILHELM SINKOVICZ
VON WILHELM SINKOVICZ

Newspapers in German

Newspapers from Austria