Was heißt Symphonie, was heißt Ballett?
Die Frage nach der Form ist für den Künstler die Gretchenfrage – manchmal stellt sie auch das Publikum. So beschwört man Shakespeare und den Heiligen Geist musikalisch.
Besucher, die sich in der Volksoper ins neue „Romeo und Julia“-Ballett verirren und dort eine zärtlich-bittersüße Romanze in Renaissance-Kostümen erwarten, werden staunen. Die kürzlich verstorbene Ausstatterin Rosalie lässt Shakespeares berühmtestes Paar zwischen Industriegestänge lieben und sterben. Aber formale Fragen scheinen schon angesichts der Komposition von Hector Berlioz und nicht erst seit deren Umsetzung auf der Volksopernbühne systemimmanent.
Eine „dramatische Symphonie“nennt der Komponist sein Stück, das keine Oper, kein Oratorium und auch – dem Untertitel zum Trotz – keine Symphonie ist. Oder doch. Was ist schon eine Symphonie? Bach nennt seine dreistimmigen Inventionen so, die Italiener bis herauf zu Verdi betitelten ihre Opernouvertüren „Sinfonia“, beim jungen Mozart fungieren die Vorspiele zu frühen Opern ohneweiters auch als Konzertstücke.
Und Beethoven ließ Solisten und Chor aufs Podium bitten; was nach ihm auch Mendelssohn tat und in der nämlichen Ära auch Berlioz, von Mahler ganz zu schweigen, der in seiner Achten vom ersten Takt an drei Chöre und acht Gesangssolisten mit einem Riesenorchester den Heiligen Geist beschwören lässt.
Diese „Achte Symphonie“gibt dem Publikum seit ihrer glanzvollen Uraufführung im München des Jahres 1910 Rätsel auf. Auf den Hymnus „Veni creator spiritus“folgt der Schlussteil von Goethes „Faust II“, dessen deutsche Verse dem heutigen Durchschnittshörer, dem es an huma- nistischer Bildung gebricht, ebenso unverständlich bleiben wie die lateinischen Strophen des ekstatischen Pfingst-Gedichts.
Da ist Fantasie gefragt, die von den ebenso ekstatischen Klängen entfesselt werden kann. In der Volksoper versucht man zu Berlioz’ eigenwilliger Shakespeare-Symphonie auch noch Bilder zu liefern, im Musikverein darf man demnächst die Augen schließen und sich von Mahlers Klangmassen überwältigen lassen: Die Tonkünstler versuchen das für den Saal viel zu groß orchestrierte Stück wieder einmal in den goldenen Saal zu pferchen.
Da muss der creator spiritus walten, damit bis zum Einherschweben der mater gloriosa nicht schon alle schwerhörig geworden sind und die plötzlich zarten Sphärenklänge noch vernehmen können.