Die Presse

„Wir leben jeden Tag im Schockzust­and“

Türkei. Die türkische Schriftste­llerin Aslı Erdo˘gan erhält den Grazer Menschenre­chtspreis, sie selbst musste ihre Teilnahme absagen. Ein Gespräch über Rationalit­ät in der Justiz und über das große Schweigen der Bevölkerun­g.

- DIENSTAG, 12. DEZEMBER 2017 VON DUYGU ÖZKAN

Eigentlich sollte die türkische Schriftste­llerin Aslı Erdogan˘ am heutigen Dienstag in Graz sein, dort den Menschenre­chtspreis der Stadt entgegenne­hmen. Und tags darauf in Wien, eine Abendveran­staltung im Theater Werk X. Doch am Wochenende erlitt Erdogan˘ einen Unfall in Deutschlan­d. Die Schriftste­llerin musste bis auf Weiteres alle Termine absagen oder verschiebe­n (Werk X), derzeit erholt sie sich, und wie es ihr ihre reflektier­ende Natur vorgibt, verarbeite­t sie das Geschehene in einem weit größeren Rahmen. „Ich hatte einen Unfall und war im Schock“, sagt sie im Gespräch mit der „Presse“, „das ist eine normale Reaktion des Körpers, um den Schmerz nicht zu spüren. In diesem Schockzust­and leben wir in der Türkei jeden Tag.“

Die ersten Tage in Gefangensc­haft verbringen die Menschen auch im Schock, sagt sie nachdenkli­ch. Eine Art Bewusstlos­igkeit im Wachzustan­d, ein Zustand, den sie im vergangene­n Jahr selbst erlebt hat, als sie plötzlich verhaftet und 132 Tage später genauso plötzlich wieder freigelass­en wurde. Auf den Bildern, die die Schriftste­llerin in den ersten Minuten ihrer neu gewonnenen Freiheit zeigten, stand eine dünne, blasse Frau mit Ringen unter den Augen, die nach Feuer für ihre Zigarette fragte. Die türkische Justiz wirft Erdogan˘ Terrorprop­aganda vor, als „Belege“dienen ihr die Texte der Autorin und ihre ehrenamtli­che Tätigkeit für eine prokurdisc­he Zeitung. Das Verfahren wird fortgesetz­t, und obwohl sie die Erlaubnis bekam, ins Ausland reisen zu dürfen, behielten die Behörden bis vor Kurzem ihren Pass ein.

Ein Land ohne Justiz

Behörden und Justiz scheinen in der heutigen Türkei ihre eigene Logik zu haben, aber eine Logik ohne Struktur und Berechenba­rkeit, das trifft Erdogan˘ auch als studierte Physikerin. Dem viel bemühten Vergleich des aktuellen Ausnahmezu­standes zu den schwierige­n Jahren nach dem Putsch 1980 kann sie durchaus etwas abgewinnen: „Wir hatten damals eine Junta, und auch sie ging gegen selbsterkl­ärte Feinde vor. Wir haben alle gewusst, was uns erwartet, wenn wir das oder das machen. Diese Rationalit­ät gibt es heute nicht. Welche Anschuldig­ung gerade passt, wird auch angewendet.“

Ein Land ohne Justiz, sagt sie, und das „ist die gefährlich­ste Lage, in die ein Land geraten kann“. Die Regierung zu kritisiere­n ist einerlei, das hat Erdogan˘ oft gemacht, und dafür ist ihr die internatio­nale Aufmerksam­keit auch sicher. In ihren Schriften aber klagt die Autorin über das Schweigen der großen Mehrheit, über das Nichthinsc­hauen, etwa in die Kurdenregi­on, auf die „Aschesäcke mit gestopften Menschenrü­mpfen“, wie sie in ihrem neuesten Buch „Nicht einmal das Schweigen gehört uns“(Knaus-Verlag), schreibt: „Zerfetzte Seelen, durchschos­sene Wörter, Augen, die toter sind als die der Gestorbene­n.“

die türkische Autorin, kann aufgrund eines Unfalls nicht wie geplant nach Österreich kommen. In Graz erhält sie den Menschenre­chtspreis, in Wien war am Mittwoch eine Veranstalt­ung im Theater Werk X geplant, die nun verschoben wurde. Erdogan˘ wurde 1967 in Istanbul geboren. Die studierte Physikerin wurde nach dem Putschvers­uch im vergangene­n Jahr festgenomm­en und befand sich 132 Tage in Haft.

Ihre Schriften und Essays handeln viel vom Tod und vom Wissen darum, dass er uns alle einholen wird. Sie schreibt über Verlust und verheilte Wunden, die uns aber nur verheilt erscheinen, denn in Wahrheit sind sie noch schmerzhaf­t tief und blutig. Über sich selbst streut Erdogan˘ in einen ihrer Texte ein: „Ich bin an meinem Lieblingso­rt, ich bin in meiner eigenen Nacht“, und dieses stille, dunkle Wirken charakteri­siert ihre Arbeit wohl am eindringli­chsten.

Das Wort Faschismus

So oft sich die Autorin auch unpolitisc­h nennt, so oft wird sie in die Politik hineingeso­gen wie in einen Taifun. Sie sei eine der ersten gewesen, erzählt sie, die die aktuelle türkische Regierung als faschistis­ch bezeichnet habe. „Ich habe das Wort zuerst in Anführungs­zeichen gesetzt. Im Sinne Ingeborg Bachmanns, wonach der Faschismus das Erste in der Beziehung zwischen einem Mann und einer Frau sei. Ich habe es als Faschismus im weitesten Sinn gemeint, nicht im direkten Vergleich zu Italien zum Bei- spiel.“Mittlerwei­le sind die Anführungs­zeichen verschwund­en, und Intellektu­elle wie Erdogan˘ sind schwer damit beschäftig­t, die türkische Gegenwart im historisch­en Kontext zu begreifen. Sind das die düstersten Tage, die die Republik jemals erlebt hat? Oder ist es eine Transition­sphase? In jedem Fall aber wird derzeit eine neue Grube in die Geschichte gegraben, so nennt es Erdogan,˘ und diese wird später zugeschütt­et, ohne jemals aufgearbei­tet zu werden. Denn so habe es bislang immer funktionie­rt: zuschütten, schweigen, vergessen. Der Alltag gewordene Schockzust­and, damit man irgendwie durch das Leben kommt.

Derzeit arbeitet Erdogan˘ gemeinsam mit der in Wien wirkenden Regisseuri­n und Künstlerin Emel Heinreich an einer Textkollag­e, sie soll die Evolution ihrer Schriften im Laufe der Jahrzehnte nachzeichn­en. Es ist ein Stück über die Wandlung der Aslı Erdogan˘ von einer aufstreben­den Physikerin zu einer vom Staat deklariert­en Terroristi­n. Heinreich möchte das Stück demnächst auf die Bühne bringen.

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[ AFP ] „Ich hatte einen Unfall und war im Schock“, sagt Schriftste­llerin Aslı Erdogan˘ im Gespräch mit der „Presse“: „Das ist eine normale Reaktion des Körpers, um den Schmerz nicht zu spüren. In diesem Schockzust­and leben wir in der Türkei jeden Tag.“Aslı...

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