Zwei Sessel, 14 Bälle und die Wirklichkeit
Neuer Zirkus. Das „Winterfest“im Salzburger Volksgarten präsentiert bereits zum 17. Mal, was in Wien noch immer nicht zu sehen ist – die wunderbare Welt des Nouveau Cirque: sinnlich, lustvoll, lebenszugewandt.
Zirkus – im Winter? Was bis heute in vieler Ohren nach jahreszeitlicher Unvereinbarkeit klingen mag, ist in Salzburg mittlerweile besteingeführte Tradition. Bereits zum 17. Mal lädt man heuer an der Salzach zum „Winterfest“in den Volksgarten, und dieses „Winterfest“stand von den bescheidensten Anfängen des Jahres 2001 an ganz im Zeichen einer in Österreich nicht eben weit verbreiteten Kunstform, des Nouveau Cirque, jener vor allem im frankofonen Raum hoch angesehenen Mischung aus Akrobatik, Tanz, Theater, Musik und jeder Menge Poesie, die mit dem Zirkus vergangener Tage nicht mehr allzu viel gemein hat: die Gattungsbezeichnung, den Austragungsort, üblicherweise ein Zelt – und jene Wirkmächtigkeit über alle sozialen Schichten und Altersgruppen hinweg, um die andere darstellende Künste den Zirkus seit je (und mit Recht) beneiden.
Es ist der immer gleiche Traum, der in den Manegen des Nouveau Cirque geträumt wird: der Traum von der Überwindung der Schwerkraft. Und in diesen Manegen ist einzig und allein ein Tier zu sehen: der Homo sapiens mit all seinen Sehnsüchten, Wünschen, Begierden, mit seinen immer wieder staunen machenden Fertigkeiten wie mit seinem Scheitern, sei es an sich selbst, an der Materie oder an seinen Nächsten.
Der Zirkus als Theater der Welt, so vielfältig wie die Welt selbst und wie diese Welt ständig vom Versagen, von der Niederlage bedroht – doch gleichermaßen aller Anstrengungen, aller Mühen wert. Eine Feier des Lebens, manchmal nachdenklicher, manchmal überschwänglicher arrangiert, freilich stets von der unerschütterlichen Gewissheit getragen, dass dieses Leben zu leben gut und richtig ist.
Virtuose Etüde in Sachen Freundschaft
Eher aus der Abteilung Überschwang: „Attrape-Moi“(Fang mich), eine Produktion der frankokanadischen Truppe „Flip FabriQue“. Fünf Männer, eine Frau – das ist der Stoff, aus dem üblicherweise Männlichkeitsgemetzel sind. „Flip FabriQue“macht daraus eine virtuose Etüde in Sachen Freundschaft jenseits vordergründiger Geschlechterkonstellationen, in die sich wie beiläufig Artistik und Jonglage mengen, als könnt’s gar nicht anders sein. Das Miteinander als großer Spielplatz, auf dem alles möglich und gleichermaßen stets vergänglich scheint, der Triumph der Schönheit des Au- genblicks über die Frage nach dem Morgen, furioses Weihespiel lustvoll erlebter Körperlichkeit, in dem sich alles vom Hula-HoopReifen bis zum Trampolin in den Dienst einer einzigen großen Erzählung stellt: der Erzählung vom Vertrauen in jene Nächsten, die das mitmenschliche Zuhause sind.
Sehr viel nachdenklicher, stiller und zurückhaltender in den Mitteln das deutschfranzösische Duo „Ariane & Roxana“: Zwei Sessel und 14 Jonglierbälle genügen den beiden in ihrer Kurzproduktion „Play Nice“, um Gemeinsamkeit am Scheideweg zwischen Kooperation und Konflikt in immer wieder neuen Varianten durchzuexerzieren, ein Wechselspiel der Beziehungen, das hinter der charmanten Oberfläche des eben immer Spielerischen Mechanismen und Strategien der gemeinsamen Erlebens offenlegt.
Es ist das Verdienst eines Salzburger Zirkus-Aficionados, Georg Daxner, dass eine so rundum sinnliche, unmittelbar wirksame Form theatraler Gegenwartskunst dem heimischen Publikum nicht ganz und gar vorenthalten bleibt. Und dass Daxners Bergunfalltod 2014 nicht gleichermaßen das Ende des von ihm begründeten und bis zu- letzt geleiteten „Winterfests“nach sich zog, erweist umso mehr die Bedeutung, die dieses Nouveau-Cirque-Festival mittlerweile auch in der internationalen Szene hat. Eine Bedeutung, die sich sogar schon in Österreich selbst herumgesprochen hat. So darf sich Graz seit einigen Jahren gleichfalls zur Winterszeit unter dem Label „Cirque Noel“¨ internationaler Gastspiele erfreuen. Und vielleicht wird man irgendwann in absehbarer Zeit sogar in Wien entdecken, dass da jenseits von Catering mit circensischem Dekor nach „Palazzo“-Art oder Cirque-du-Soleil-Hochglanzkonfektion noch ein ganzer, riesiger Kosmos gefühlstiefer Ausdrucksformen zu entdecken wäre.
Stummfilm-Hommage aus der Schweiz
Bis dahin dürfen sich Interessierte an dem erfreuen, was ihnen jenseits der Wiener Stadtgrenzen geboten wird. Beim Salzburger Winterfest demnächst eine belgische Truppe, angeführt von Claudio Stellato, mit „La Cosa“, einer Produktion rund um vier Kubikmeter Holz und was sie uns über Erbauen, Zerstören und Grenzen des Wachstums erzählen können. Anschließend die franzö- sische „Cie XY“, die unter dem Titel „Il n’est pas encore minuit . . .“(Es ist noch nicht Mitternacht . . .) 22 Artisten auf leerer Bühne zu einem rasant-bildgewaltigen Stück rund um Gemeinschaft und Alleinsein vereinigt. Zuletzt die Schweizer „Compagnia Baccal`a“mit ihrer traumwandlerischen StummfilmHommage „Pss Pss“.
In Graz wiederum ist ab kommender Woche eine australische Compagnie zu Gast, deren Name allein, „Gravity & Other Myths“, als Hinweis auf die ästhetische Methodik genügen kann, mit der man sich „A Simple Space“annähert. Anschließend folgt mit „The 7 Fingers“Besuch aus dem schier endlosen Nouveau-Cirque-Reservoire Kanadas: Mit „Reversible“´ setzt sich die Truppe auf die Spuren der eigenen Familiengeschichte. Möge die Übung gelingen.