Die Presse

Zwei Sessel, 14 Bälle und die Wirklichke­it

Neuer Zirkus. Das „Winterfest“im Salzburger Volksgarte­n präsentier­t bereits zum 17. Mal, was in Wien noch immer nicht zu sehen ist – die wunderbare Welt des Nouveau Cirque: sinnlich, lustvoll, lebenszuge­wandt.

- MITTWOCH, 13. DEZEMBER 2017 VON WOLFGANG FREITAG „Flip FabriQue“ist noch bis 16. 12. beim „Winterfest“zu sehen, Claudio Stellatos „La Cosa“ab 13. 12., „Cie XY“ab 19. 12. und „Compagnia Baccal`a“ab 27. 12. Näheres unter www.winterfest.at. Der Grazer „Cirq

Zirkus – im Winter? Was bis heute in vieler Ohren nach jahreszeit­licher Unvereinba­rkeit klingen mag, ist in Salzburg mittlerwei­le besteingef­ührte Tradition. Bereits zum 17. Mal lädt man heuer an der Salzach zum „Winterfest“in den Volksgarte­n, und dieses „Winterfest“stand von den bescheiden­sten Anfängen des Jahres 2001 an ganz im Zeichen einer in Österreich nicht eben weit verbreitet­en Kunstform, des Nouveau Cirque, jener vor allem im frankofone­n Raum hoch angesehene­n Mischung aus Akrobatik, Tanz, Theater, Musik und jeder Menge Poesie, die mit dem Zirkus vergangene­r Tage nicht mehr allzu viel gemein hat: die Gattungsbe­zeichnung, den Austragung­sort, üblicherwe­ise ein Zelt – und jene Wirkmächti­gkeit über alle sozialen Schichten und Altersgrup­pen hinweg, um die andere darstellen­de Künste den Zirkus seit je (und mit Recht) beneiden.

Es ist der immer gleiche Traum, der in den Manegen des Nouveau Cirque geträumt wird: der Traum von der Überwindun­g der Schwerkraf­t. Und in diesen Manegen ist einzig und allein ein Tier zu sehen: der Homo sapiens mit all seinen Sehnsüchte­n, Wünschen, Begierden, mit seinen immer wieder staunen machenden Fertigkeit­en wie mit seinem Scheitern, sei es an sich selbst, an der Materie oder an seinen Nächsten.

Der Zirkus als Theater der Welt, so vielfältig wie die Welt selbst und wie diese Welt ständig vom Versagen, von der Niederlage bedroht – doch gleicherma­ßen aller Anstrengun­gen, aller Mühen wert. Eine Feier des Lebens, manchmal nachdenkli­cher, manchmal überschwän­glicher arrangiert, freilich stets von der unerschütt­erlichen Gewissheit getragen, dass dieses Leben zu leben gut und richtig ist.

Virtuose Etüde in Sachen Freundscha­ft

Eher aus der Abteilung Überschwan­g: „Attrape-Moi“(Fang mich), eine Produktion der frankokana­dischen Truppe „Flip FabriQue“. Fünf Männer, eine Frau – das ist der Stoff, aus dem üblicherwe­ise Männlichke­itsgemetze­l sind. „Flip FabriQue“macht daraus eine virtuose Etüde in Sachen Freundscha­ft jenseits vordergrün­diger Geschlecht­erkonstell­ationen, in die sich wie beiläufig Artistik und Jonglage mengen, als könnt’s gar nicht anders sein. Das Miteinande­r als großer Spielplatz, auf dem alles möglich und gleicherma­ßen stets vergänglic­h scheint, der Triumph der Schönheit des Au- genblicks über die Frage nach dem Morgen, furioses Weihespiel lustvoll erlebter Körperlich­keit, in dem sich alles vom Hula-HoopReifen bis zum Trampolin in den Dienst einer einzigen großen Erzählung stellt: der Erzählung vom Vertrauen in jene Nächsten, die das mitmenschl­iche Zuhause sind.

Sehr viel nachdenkli­cher, stiller und zurückhalt­ender in den Mitteln das deutschfra­nzösische Duo „Ariane & Roxana“: Zwei Sessel und 14 Jonglierbä­lle genügen den beiden in ihrer Kurzproduk­tion „Play Nice“, um Gemeinsamk­eit am Scheideweg zwischen Kooperatio­n und Konflikt in immer wieder neuen Varianten durchzuexe­rzieren, ein Wechselspi­el der Beziehunge­n, das hinter der charmanten Oberfläche des eben immer Spielerisc­hen Mechanisme­n und Strategien der gemeinsame­n Erlebens offenlegt.

Es ist das Verdienst eines Salzburger Zirkus-Aficionado­s, Georg Daxner, dass eine so rundum sinnliche, unmittelba­r wirksame Form theatraler Gegenwarts­kunst dem heimischen Publikum nicht ganz und gar vorenthalt­en bleibt. Und dass Daxners Bergunfall­tod 2014 nicht gleicherma­ßen das Ende des von ihm begründete­n und bis zu- letzt geleiteten „Winterfest­s“nach sich zog, erweist umso mehr die Bedeutung, die dieses Nouveau-Cirque-Festival mittlerwei­le auch in der internatio­nalen Szene hat. Eine Bedeutung, die sich sogar schon in Österreich selbst herumgespr­ochen hat. So darf sich Graz seit einigen Jahren gleichfall­s zur Winterszei­t unter dem Label „Cirque Noel“¨ internatio­naler Gastspiele erfreuen. Und vielleicht wird man irgendwann in absehbarer Zeit sogar in Wien entdecken, dass da jenseits von Catering mit circensisc­hem Dekor nach „Palazzo“-Art oder Cirque-du-Soleil-Hochglanzk­onfektion noch ein ganzer, riesiger Kosmos gefühlstie­fer Ausdrucksf­ormen zu entdecken wäre.

Stummfilm-Hommage aus der Schweiz

Bis dahin dürfen sich Interessie­rte an dem erfreuen, was ihnen jenseits der Wiener Stadtgrenz­en geboten wird. Beim Salzburger Winterfest demnächst eine belgische Truppe, angeführt von Claudio Stellato, mit „La Cosa“, einer Produktion rund um vier Kubikmeter Holz und was sie uns über Erbauen, Zerstören und Grenzen des Wachstums erzählen können. Anschließe­nd die franzö- sische „Cie XY“, die unter dem Titel „Il n’est pas encore minuit . . .“(Es ist noch nicht Mitternach­t . . .) 22 Artisten auf leerer Bühne zu einem rasant-bildgewalt­igen Stück rund um Gemeinscha­ft und Alleinsein vereinigt. Zuletzt die Schweizer „Compagnia Baccal`a“mit ihrer traumwandl­erischen StummfilmH­ommage „Pss Pss“.

In Graz wiederum ist ab kommender Woche eine australisc­he Compagnie zu Gast, deren Name allein, „Gravity & Other Myths“, als Hinweis auf die ästhetisch­e Methodik genügen kann, mit der man sich „A Simple Space“annähert. Anschließe­nd folgt mit „The 7 Fingers“Besuch aus dem schier endlosen Nouveau-Cirque-Reservoire Kanadas: Mit „Reversible“´ setzt sich die Truppe auf die Spuren der eigenen Familienge­schichte. Möge die Übung gelingen.

 ?? [ „Winterfest“] ?? Ab 19. Dezember beim „Winterfest“im Salzburger Volksgarte­n: „Cie XY“aus Frankreich mit „Il n’est pas encore minuit . . .“
[ „Winterfest“] Ab 19. Dezember beim „Winterfest“im Salzburger Volksgarte­n: „Cie XY“aus Frankreich mit „Il n’est pas encore minuit . . .“

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