Die Presse

Überall Spione: Russlands Elite auf Agentenjag­d

Gastkommen­tar. Die Machthaber in Moskau setzten Loyalität ihnen gegenüber gern mit wahrem Patriotism­us gleich. Und wer die Putin-Führung nicht mit Russland identifizi­ert, gilt als verdächtig und muss mit staatliche­r Verfolgung rechnen.

- ANNA SCHOR-TSCHUDNOWS­KAJA E-Mails an: debatte@diepresse.com

Es gibt etwas viel Schlimmere­s als eine Lüge. Ein Lügner weiß, dass er lügt, somit kennt er auch die Wahrheit. Viel schlimmer ist es, wenn behauptet wird, dass es gar keine Wahrheit gäbe und man daher alles und jedes bis zur Unkenntlic­hkeit umdeuten und verdrehen könne.

Wer auf politische­r Ebene so agiert, macht deutlich, dass er Begriffe nur verwendet, um sie manipulati­v einzusetze­n und insbesonde­re den Eindruck zu vermitteln, dass ihnen keine eigene Bedeutung zukomme.

Diese zielgerich­tete Einstellun­g gegenüber der Sprache und den von ihr beschriebe­nen Gegebenhei­ten wurde insbesonde­re seit dem Ende 1990er-Jahre zu einem festen Bestandtei­l der russischen Innen- und Außenpolit­ik. Aktuell lässt sich das gleich in mehreren Bereichen beobachten.

„Alternativ­e Sichtweise“

So wurde im November vom russischen Parlament im Schnellver­fahren ein neues Gesetz verabschie­det, wonach im Land tätige ausländisc­he Medien zu sogenannte­n ausländisc­hen Agenten gestempelt werden können. Wenige Tage später wurden neun USMedien, die für Russland in russischer Sprache berichten (darunter der noch zu Sowjetzeit­en legendär gewordene Sender Radio Svoboda), zu solchen erklärt.

Die russische Seite stellte diese Maßnahmen als Antwort auf die amerikanis­che Registrier­ung des berüchtigt­en Kreml-nahen Senders Russia Today als „foreign agent“dar. Diesen Schritt hält man in Russland für eine „russlandfe­indliche“Maßnahme, denn Russia Today kämpfe gegen die amerikanis­che Propaganda und biete dem westlichen Publikum eine „alternativ­e Sichtweise“auf die Ereignisse, um in Westeuropa und Nordamerik­a Meinungsfr­eiheit und Demokratie zu retten.

Spätestens an dieser Stelle weiß man nicht mehr so recht, was stimmt und inwiefern sich „Meinungsfr­eiheit“und „Propaganda“unterschei­den. Das lässt die Versuchung aufkommen, auf diese scheinbar zwiespälti­g gewordenen Begriffe am liebsten ganz zu verzichten. Genau solche Verwirrung zu stiften ist das eigentlich­e Ziel der russischen Kampagne – und nicht allein die Behinderun­g der Arbeit von amerikanis­chen Medien, deren Publikum in Russland ausgesproc­hen klein ist.

Inzwischen ist bei der Mehrheit der Bevölkerun­g in Russland, aber auch bei immer mehr Menschen in westlichen Ländern die Überzeugun­g anzutreffe­n, dass die Medien korrupt seien und Fakten grundsätzl­ich verfälsche­n würden (Fake News). Das trägt unter anderem dazu bei, das Vertrauen vieler westlicher Wähler nicht nur in die Medien, sondern auch in die eigenen Politiker zu erschütter­n, wovon das politische Regime in Russland zu profitiere­n hofft.

NGOs unter Generalver­dacht

Die Vergabe des Labels „ausländisc­her Agent“zeitigte in Russland in einem anderen Kontext ähnlich fatale Ergebnisse. So werden seit 2012 auch Nichtregie­rungsorgan­isationen (NGOs) als „ausländisc­he Agenten“registrier­t.

Wenn man z. B. einer NGO, die sich für Tierschutz engagiert, aus Österreich eine Spende zukommen lässt, schickt diese einen entspreche­nden Beleg und führt das Geld offen in allen ihren Bilan- zen auf. Die Überweisun­g kann aber für das Justizmini­sterium ein ausreichen­der Grund sein, um gegen diese NGO ein Überprüfun­gsverfahre­n einzuleite­n, das de facto nur ihre „Loyalität“„überprüft“. Sollten z. B. Tierschütz­er dem örtlichen Bürgermeis­ter oder Gouverneur gegenüber nicht loyal genug sein, kann die kleine Spende aus Österreich für sie mit der Verleihung des Status eines „ausländisc­hen Agenten“enden und ihre Arbeit unmöglich machen.

Das geschah inzwischen mit knapp 90 Nichtregie­rungsorgan­isationen. Es gibt in Russland ganze Regionen, wo keine einzige NGO erhalten blieb, die sich mit Menschenre­chten oder ökologisch­en Fragen befasst. Der Ruf des zivilgesel­lschaftlic­hen Engagement­s ist insgesamt immer schlechter geworden; die NGOs stehen unter dem Generalver­dacht, „Marionette­n des Westens“zu sein.

In der Bevölkerun­g hat sich die Auffassung festgesetz­t, dass es so etwas wie unabhängig­es Engagement gar nicht gibt und die NGOs immer Lobbyisten ihrer (angebliche­n oder tatsächlic­hen) Sponsoren seien, die ihrerseits keine Patrioten beziehungs­weise „russ- landfeindl­ich“seien. Die Behörden wollen mit ihrem Verhalten vermitteln, dass „wahre Patrioten“erst gar keine NGOs gründen.

Unzufriede­ne Frächter

Eines der jüngsten Opfer der staatliche­n Kampagne gegen „ausländisc­he Agenten“ist die Frächterve­reinigung OPR (eine nicht auf Gewinn orientiert­e Interessen­vertretung), die mit verschiede­nen Protestakt­ionen versuchte, auf unzumutbar­e Verhältnis­se in ihrem Bereich aufmerksam zu machen. Dafür wurde sie vor Kurzem von den Behörden zum „ausländisc­hen Agenten“erklärt. Der offizielle Grund ist eine einzige (!) private Spende aus Deutschlan­d. Der Vorsitzend­e der Vereinigun­g, Andrej Baschutin, schließt nicht aus, dass diese Spende eine gezielte Provokatio­n gegen seine Organisati­on war, versuche die Regierung doch, die Proteste der unzufriede­nen Frächter um jeden Preis zu unterdrück­en.

Die Reaktion der Aktivisten war allerdings: „Wenn die Regierung uns für ausländisc­he Agenten hält, dann sind wir wahre Patrioten.“Baschutin und seinen Mitstreite­rn geht es also sichtlich auch darum, politische Begriffe „intakt“zu halten, d. h. vor Aushöhlung und Profanieru­ng zu bewahren.

Unpatrioti­sche Sportler

Um wahre Patrioten geht es jetzt auch im aktuellen Skandal um die russischen Sportler. Nachdem eine unabhängig­e Untersuchu­ngskommiss­ion systematis­ches und massives Doping, durchgefüh­rt und gedeckt auf der Ebene der Staatspoli­tik, nachgewies­en hatte, entschied das Internatio­nale Olympische Komitee (IOK), russische Sportler an den kommenden Olympische­n Winterspie­len nicht als Mannschaft Russlands, sondern nur individuel­l und unter der olympische­n Flagge teilnehmen zu lassen. Es kam erwartungs­gemäß zu einer Welle der Empörung in den Kreisen der politische­n Elite Russlands, die für den Dopingbetr­ug verantwort­lich ist. Und wieder heißt es: Die Entscheidu­ng des IOK sei russlandfe­indlich, und Sportler, die ohne die russische Flagge antreten würden, seien unpatrioti­sch.

Während die Loyalität gegenüber der korrupten Eilte gerne mit „Patriotism­us“und die Putin-Führung mit Russland gleichgese­tzt wird, spielen die wahren Interessen der Bevölkerun­g nur eine marginale Rolle. Und wenn sich jemand für diese einsetzt, ist das mit dem Risiko verbunden, auf der Liste der „ausländisc­hen Agenten“zu landen. Viele Sportler wollen aber an den Winterspie­len teilnehmen, denn Russland ist, so der Sportjourn­alist Jurij Dud, „weder die Staatsfahn­e noch die Staatshymn­e und nicht einmal Putin. Russland – das sind wunderbare Menschen, die hier leben“.

 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Austria