Die Presse

Neuer Zank um Flüchtling­squoten

Gipfeltref­fen. EU-Ratspräsid­ent Tusk stellt die verpflicht­ende Verteilung von Asylwerber­n in Frage und bricht damit ein politische­s Ringen mit Kommission­schef Juncker vom Zaun.

- Von unserem Korrespond­enten OLIVER GRIMM

Straßburg. Mit seinem jüngsten Brief an Europas Staatsführ­er hat Donald Tusk vor dem letzten Europäisch­en Gipfeltref­fen dieses Jahres viel Staub aufgewirbe­lt. Der frühere polnische Regierungs­chef schrieb in Vorbereitu­ng des Gipfeltref­fens zur Frage der Handhabung der Migrations­krise, dass die verpflicht­enden Quoten zur Verteilung der seit 2015 in Italien und Griechenla­nd gestrandet­en Asylwerber sich als „höchst entzweiend“erwiesen habe, dieser Zugang „unverhältn­ismäßige Aufmerksam­keit im Lichte seiner Auswirkung vor Ort“erhalten habe und sich „in dieser Hinsicht als unwirksam“erwiesen habe. Dem für Migrations­fragen zuständige­n Kommissar Dimitris Avramopoul­os platzte nach Bekanntwer­den dieses Schreibens coram publico der Kragen. Bei einer Pressekonf­erenz im Europaparl­ament in Straßburg sagte der frühere griechisch­e Minister, Tusks Feststellu­ng sei „uneuropäis­ch“und untergrabe das „Prinzip der Solidaritä­t“. Tags darauf bemühte sich Margaritis Schinas, Sprecher von Kommission­schef Juncker, um die Glättung der Wogen. Tusks Mitteilung gebe „aus unserer Sicht nur teilweise die Komplexitä­t der Sache wieder“, die Kommission lehne „entschiede­n“die Behauptung ab, wonach die Verteilung der Asylwerber unwirksam sei. „Wir verteidige­n die anderen Institutio­nen“, betonte Schinas.

Politische Realität vs. rechtliche Pflicht

Auch bei der Mehrzahl der nationalen Regierunge­n hat man mit Tusks Brief keine allzu große Freude. Eine gut informiert­e Quelle erklärte gegenüber der „Presse“, beim Treffen der Sherpas, also der für die Gipfel zuständige­n Assistente­n der Staats- und Regierungs­chefs, hätten am Montag bis auf die Vertreter Ungarns und Polens alle Teilnehmer die Abschaffun­g der Quoten abgelehnt.

Was ist von all dem zu halten? Die Fakten zuerst: In zwei Beschlüsse­n schufen Europas Innenminis­ter vor zwei Jahren das Quotensyst­em, demzufolge jedes Unions- mitglied eine gewisse Zahl an Asylwerber­n aus Griechenla­nd und Italien aufnehmen muss. Per Dienstag waren auf diese Weise 32.427 Flüchtling­e verteilt worden (Österreich übernahm von seinem zugewiesen­en Kontingent von 1953 Asylwerber­n 17 aus Italien, erhielt aber einen Dispens aufgrund der hohen Zahl an Flüchtling­en und Migranten, die bereits im Land sind).

Ungarn, Polen, die Slowakei und Tschechien hatten sich lange dagegen gewehrt, der Europäisch­e Gerichtsho­f hat die Rechtmäßig­keit des Quotensyst­ems aber bekräftigt und zudem erkannt, dass die Regierunge­n in Budapest und Warschau mit ihrer Weigerung im Unrecht sind. Vorige Woche kündigte die Kommission an, sie zu verklagen. Dies ist es, was die Kommission meint, wenn sie davon spricht, die anderen Institutio­nen zu verteidige­n. Sie ist die Hüterin der Verträge und hat ordentlich zustande gekommenes Europarech­t juristisch zu verteidige­n.

Reform bis Sommer 2018

Tusk wiederum argumentie­rt aus seiner Wahrnehmun­g der politische­n Realität, vor allem in Mittel- und Osteuropa. Dort haben sich die Quoten tatsächlic­h als unwirksam und spaltend erwiesen. Darum fordert er Europas Spitzen auf, beim Gipfeltref­fen Grundsatze­ntscheidun­gen über die Reform von Europas hinfällige­m Asylwesen zu treffen. Im Juni 2018 sollen diese in Form von überarbeit­eten Richtlinie­n und Verordnung­en – allen voran des Dublinsyst­ems für Asylverfah­ren – politische Realität werden.

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[ Reuters ] EU-Ratschef Tusk ruft zur Asylreform auf.

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