Neuer Zank um Flüchtlingsquoten
Gipfeltreffen. EU-Ratspräsident Tusk stellt die verpflichtende Verteilung von Asylwerbern in Frage und bricht damit ein politisches Ringen mit Kommissionschef Juncker vom Zaun.
Straßburg. Mit seinem jüngsten Brief an Europas Staatsführer hat Donald Tusk vor dem letzten Europäischen Gipfeltreffen dieses Jahres viel Staub aufgewirbelt. Der frühere polnische Regierungschef schrieb in Vorbereitung des Gipfeltreffens zur Frage der Handhabung der Migrationskrise, dass die verpflichtenden Quoten zur Verteilung der seit 2015 in Italien und Griechenland gestrandeten Asylwerber sich als „höchst entzweiend“erwiesen habe, dieser Zugang „unverhältnismäßige Aufmerksamkeit im Lichte seiner Auswirkung vor Ort“erhalten habe und sich „in dieser Hinsicht als unwirksam“erwiesen habe. Dem für Migrationsfragen zuständigen Kommissar Dimitris Avramopoulos platzte nach Bekanntwerden dieses Schreibens coram publico der Kragen. Bei einer Pressekonferenz im Europaparlament in Straßburg sagte der frühere griechische Minister, Tusks Feststellung sei „uneuropäisch“und untergrabe das „Prinzip der Solidarität“. Tags darauf bemühte sich Margaritis Schinas, Sprecher von Kommissionschef Juncker, um die Glättung der Wogen. Tusks Mitteilung gebe „aus unserer Sicht nur teilweise die Komplexität der Sache wieder“, die Kommission lehne „entschieden“die Behauptung ab, wonach die Verteilung der Asylwerber unwirksam sei. „Wir verteidigen die anderen Institutionen“, betonte Schinas.
Politische Realität vs. rechtliche Pflicht
Auch bei der Mehrzahl der nationalen Regierungen hat man mit Tusks Brief keine allzu große Freude. Eine gut informierte Quelle erklärte gegenüber der „Presse“, beim Treffen der Sherpas, also der für die Gipfel zuständigen Assistenten der Staats- und Regierungschefs, hätten am Montag bis auf die Vertreter Ungarns und Polens alle Teilnehmer die Abschaffung der Quoten abgelehnt.
Was ist von all dem zu halten? Die Fakten zuerst: In zwei Beschlüssen schufen Europas Innenminister vor zwei Jahren das Quotensystem, demzufolge jedes Unions- mitglied eine gewisse Zahl an Asylwerbern aus Griechenland und Italien aufnehmen muss. Per Dienstag waren auf diese Weise 32.427 Flüchtlinge verteilt worden (Österreich übernahm von seinem zugewiesenen Kontingent von 1953 Asylwerbern 17 aus Italien, erhielt aber einen Dispens aufgrund der hohen Zahl an Flüchtlingen und Migranten, die bereits im Land sind).
Ungarn, Polen, die Slowakei und Tschechien hatten sich lange dagegen gewehrt, der Europäische Gerichtshof hat die Rechtmäßigkeit des Quotensystems aber bekräftigt und zudem erkannt, dass die Regierungen in Budapest und Warschau mit ihrer Weigerung im Unrecht sind. Vorige Woche kündigte die Kommission an, sie zu verklagen. Dies ist es, was die Kommission meint, wenn sie davon spricht, die anderen Institutionen zu verteidigen. Sie ist die Hüterin der Verträge und hat ordentlich zustande gekommenes Europarecht juristisch zu verteidigen.
Reform bis Sommer 2018
Tusk wiederum argumentiert aus seiner Wahrnehmung der politischen Realität, vor allem in Mittel- und Osteuropa. Dort haben sich die Quoten tatsächlich als unwirksam und spaltend erwiesen. Darum fordert er Europas Spitzen auf, beim Gipfeltreffen Grundsatzentscheidungen über die Reform von Europas hinfälligem Asylwesen zu treffen. Im Juni 2018 sollen diese in Form von überarbeiteten Richtlinien und Verordnungen – allen voran des Dublinsystems für Asylverfahren – politische Realität werden.