Die Presse

An Brüssels kurzer Leine?

Gastkommen­tar. Manchen Politikern in der EU soll es nicht gefallen, dass die FPÖ als Regierungs­partei bald Zugriff auf Geldtöpfe haben wird.

- VON BERNHARD MARTIN Mag. Dr. Bernhard Martin (geboren 1966) ist freier Mediensozi­ologe in Wien. E-Mails an: debatte@diepresse.com

Angesichts fortgeschr­ittener Koalitions­verhandlun­gen dürfte bald eine neue Bundesregi­erung bereitsteh­en. In der Öffentlich­keit mehren sich die Meinungen zur Qualifikat­ion des neuen Regierungs­chefs: „Kann Kurz Kanzler? – Und falls ja, wie autoritär?“, erörtern Kommentato­ren aller Couleurs die Leadership-Qualitäten von Sebastian Kurz.

Wenn es um dringliche Strukturre­formen geht, sind Zweifel berechtigt, ob der 31-Jährige sich als künftiger Kanzler gegen selbstrefe­renzielle Machtblöck­e in der eigenen Partei, gegen den EU-kritischen Koalitions­partner oder im politische­n Kampf mit Regierungs­gegnern und notorische­n Reformbrem­sern durchsetze­n kann.

Mehr noch zweifelt so mancher gelernte Österreich­er, ob Kurz dem Reformdruc­k aus der EU zur Vertiefung der Integratio­n standhält. Ginge es etwa nach dem Boulevardb­latt Nummer eins, hätte ein Bundeskanz­ler auf dem Brüsseler Parkett quasi nur eine Aufgabe: daran festzuhalt­en, dass EU-Recht zwar schön und gut wäre, aber die politische Kultur hierzuland­e ge- nau weiß, wie „flexibel“Gesetze sein müssen.

So ist die Regierung mit der Umsetzung der Richtlinie für öffentlich­e Auftragsve­rgaben seit Jahren in Verzug. Es drohen empfindlic­he Geldbußen sowie eine Verurteilu­ng Österreich­s vor dem Europäisch­en Gerichtsho­f.

Spezifisch­e „Wünsche“an Wien

Wie von mehreren Medien berichtet wurde, gibt es aus der EUHauptsta­dt ein Schreiben an die Regierung mit spezifisch­en „Wünschen“für Österreich­s Ratspräsid­entschaft im zweiten Halbjahr 2018. Womit EU-Politiker aber das größte Problem haben, ist die Regierungs­beteiligun­g der Freiheitli­chen. Weniger wegen deren überholter Ideologie als vielmehr der pragmatisc­hen Überlegung folgend, dass die FPÖ als Regierungs­partei Zugriff auf beträchtli­che Geldtöpfe haben wird.

Deswegen ist man in der EUKommissi­on (informell) sehr daran interessie­rt, dass ÖVP-geführte Ministerie­n auf ihre blauen Pendants quasi aufpassen mögen. Also Spiegelmin­isterien, wie zuletzt auch von Rot-Schwarz praktizier­t, weil Kurz die angedachte Kanzler- Richtlinie­nkompetenz bei der FPÖ nicht durchgebra­cht hat.

Geht es nach dem reformeifr­igen französisc­hen Staatspräs­identen, Emmanuel Macron, dann sollen Parteien 2019 erstmals EU-weite Wahllisten erstellen, wenn das Europäisch­e Parlament neu gewählt wird. Dementspre­chend hoch ist das Interesse aller anderen Fraktionen in Brüssel, dass die mit rechtsnati­onalen Parteien „verpartner­te“FPÖ in Österreich nicht unkontroll­iert über beträchtli­che ministerie­lle Mittel verfügen können solle.

0Losgelöst von speziellen Wünschen und berechtigt­en Sorgen in der EU wird sich Bundeskanz­ler Kurz aber weniger gegen Korruption oder Veruntreuu­ng von Steuermitt­eln stemmen – wie dies Landes- und Bundesregi­erungen seit je und bis heute politisch verantwort­en. Vielmehr ist und bleibt dies Aufgabe der kritischen Öffentlich­keit in dieser Republik sowie einer auch am EU-Recht orientiert­en, unabhängig­en Justiz.

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