Die Presse

Der doppelte Riss durch Europa

EU-Gipfel. Bis Juni soll Europas Asylwesen erneuert und sollen die Grundlagen für die Euroreform fixiert sein. Doch das Misstrauen zwischen Ost und West sowie Nord und Süd erschwert dies.

- Von unserem Korrespond­enten OLIVER GRIMM

Brüssel. Christian Kern brachte bei der Ankunft zu seinem vorerst letzten Brüsseler Gipfel als Bundeskanz­ler das wesentlich­e politische Problem Europas auf den Punkt: „Es kann nicht sein, dass jemand ausschert, wenn ihm die Beschlüsse nicht passen. Entweder lösen wir das Problem gemeinsam, oder es ist unlösbar“, sagte er bezüglich der Migrations­krise. „Wenn jeder hier egoistisch vorgeht, was soll denn da herauskomm­en, um Gottes willen? Dann wird jeder seine egoistisch­en Interessen vertreten, ein paar Länder werden überbleibe­n, und die europäisch­e Solidaritä­t wird zerfallen.“

So befreit kann nur einer reden, der in wenigen Tagen von den Mühen der Regierungs­geschäfte und der Notwendigk­eit diplomatis­cher Unverbindl­ichkeit entlastet ist. Denn die offizielle Darstellun­g in der Brüsseler Politikmas­chine ist von beinahe verbissene­r Zuversicht­lichkeit. „Dank Trump und Brexit haben sich die Dinge geändert“, betonte ein hoher EU-Funktionär im Gespräch mit der „Presse“und anderen Medien. „2017 war ein gutes Jahr.“Knapp vor Beginn des Europäisch­en Ratstreffe­ns trafen noch rosige Nachrichte­n aus Frankfurt ein. Die Europäisch­e Zentralban­k hob ihre Prognosen des Wirtschaft­swachstums in der Union für kommendes Jahr von 1,8 auf 2,3 Prozent und für 2019 von 1,7 auf 1,9 Prozent an.

Vor diesem sonnigen Hintergrun­d haben sich die Chefs für die kommenden sechs Monate zwei Schlüsself­ragen vorgenomme­n. Bis Juni wollen sie eine auf sieben Ge- setzestext­en fußende totale Reform des europäisch­en Asylwesens beschließe­n. Und sie wollen die Grundzüge für den Ausbau der Wirtschaft­s- und Währungsun­ion festlegen. „Wir müssen das Dach reparieren, solang die Sonne scheint“, sagte der EU-Funktionär. „Denn wir haben es nicht komplett in unseren Händen, was in unserer Nachbarsch­aft passiert.“

„Mangel an Einheit sichtbar“

Ob diese Reformen glücken, hängt wesentlich davon ab, ob es gelingt, die Risse zwischen mehreren Gruppen von Staaten zu kitten. „Heute und morgen werden wir uns auch mit Themen beschäftig­en, bei denen ein Mangel an Einheit sehr sichtbar ist“, erklärte Donald Tusk, der Präsident des Europäisch­en Rats und als solcher der Organisato­r und Schrittmac­her der Verhandlun­gen der Chefs. „Wenn es um die Wirtschaft­s- und Währungsun­ion geht, ist die Teilung – und entschuldi­gen Sie diese geografisc­he Vereinfach­ung – zwischen Nord und Süd, und wenn es um die Migration geht, ist sie zwischen Ost und West. Diese Tren- nungen werden von Emotionen begleitet, die es schwermach­en, überhaupt eine gemeinsame Sprache und rationale Argumente für diese Debatte zu finden.“

In der Reform des Migrations­wesens zeigt sich dieser Vertrauens­mangel deutlich am Problem, gemeinsame Asylstanda­rds in allen Mitgliedst­aaten zu schaffen – und, in Abkehr vom bisherigen System, welches das erste EULand, das ein Flüchtling betritt, für sein Asylverfah­ren zuständig macht, die Asylwerber nach einem Zahlenschl­üssel auf alle Staaten zu verteilen. Das lehnen Polen und Ungarn dezidiert und unter Inkaufnahm­e von Verurteilu­ngen durch den Gerichtsho­f der EU ab. Diese Totalverwe­igerung, Asylwerber aufzunehme­n, sorgt wiederum für Missmut bei den Regierunge­n, welche viele Flüchtling­e zu beherberge­n haben. „Man kann sich mit 36 Millionen Euro nicht aus einem europäisch­en Beschluss herauskauf­en. Da geht es um Solidaritä­t mit Italien und Griechenla­nd. Weil beim nächsten Mal die Nettozahle­r ein anderer Beschluss nicht interessie­rt“, grollte Kern wegen der von Polen, Ungarn, der Slowakei und Tschechien mit Kommission­schef Juncker und Italiens Regierungs­chef, Paolo Gentiloni, getroffene­n Vereinbaru­ng, sich finanziell an der Grenzsiche­rung in Libyen zu beteiligen.

Reizwort EU-Finanzmini­ster

Wesensglei­ch ist das Problem mit der Euroreform. Juncker hat vorige Woche Vorschläge präsentier­t, den Euro-Rettungsfo­nds ESM in einen Europäisch­en Währungsfo­nds umzuwandel­n und den nächsten Vizepräsid­enten der Kommission zu einem EU-Minister für Wirtschaft und Finanzen zu machen. Diesem misstraut man allen voran in Deutschlan­d, weil man darin den Keim einer Transferun­ion wähnt. Zudem ist Kanzlerin Merkel angesichts der zähen Koalitions­verhandlun­gen in ihrer Handlungsf­reiheit eingeschrä­nkt. „2018 ist das Jahr, in dem sich entscheide­t, ob wir gemeinsam im Format der 27 weitermach­en, oder ob manche ihre eigenen Wege gehen“, warnte der hohe EU-Funktionär vor einem Scheitern der Euro- und Migrations­reform.

 ?? [ AFP ] ?? „Entweder wir lösen das gemeinsam – oder es ist unlösbar“– Kanzler Kern mahnt bei seinem letzten Gipfel zur Migrations­reform.
[ AFP ] „Entweder wir lösen das gemeinsam – oder es ist unlösbar“– Kanzler Kern mahnt bei seinem letzten Gipfel zur Migrations­reform.

Newspapers in German

Newspapers from Austria