Die Presse

Polen droht juristisch­e „Atombombe“

Artikel 7. Die EU-Kommission wird ein Verfahren wegen Verletzung europäisch­er Grundwerte eröffnen. Ernsthafte Folgen drohen der PiS-Regierung aber vorerst nicht.

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Brüssel. Polens frisch angelobter neuer Regierungs­chef, Mateusz Morawiecki, nahm seine erste Teilnahme an einem Europäisch­en Rat in Brüssel zum Anlass, die Eskalation des seit Monaten schwelende­n Streits zwischen der EU-Kommission und der nationalpo­pulistisch­en PiS-Regierung zu verkünden. Offenbar sei die Entscheidu­ng bereits getroffen worden, kommenden Mittwoch ein Verfahren gegen Polen zu eröffnen, sagte der Ministerpr­äsident vor Journalist­en. Morawiecki bezog sich auf das Verfahren nach Artikel 7 des Vertrags der EU, welches bei einer „schwerwieg­enden Verletzung“europäisch­er Grundwerte durch einen Mitgliedst­aat bis zum Entzug der Stimmrecht­e und damit der Ächtung dieses Landes führen kann.

Seitens der Kommission hieß es gegenüber der „Presse“, dass man davon ausgehe, dass Polens Präsident, Andrzej Duda, jene Gesetze zum Umbau des polnischen Justizwese­ns, deretwegen die Kommission seit gut zwei Jahren mit der PiS-Regierung im Clinch liegt, demnächst unterzeich­nen werde. Damit habe die Kommission keine andere Wahl, als ihre im Juli geäußerte Drohung der Auslösung des Artikel-7-Verfahrens wahr zu machen. Dies dürfte nächsten Mittwoch geschehen. Die juristisch­e „Atombombe“, wie die Bestimmung in Brüsseler Kreisen genannt wird, wäre entsichert.

Orban´ wird Veto einlegen

Was wird nun also passieren? Absatz 1 des besagten Artikels 7 ermächtigt die Kommission, den nationalen Regierunge­n vorzuschla­gen, dass sie mit Vier-FünftelMeh­rheit im Rat die „eindeutige Gefahr einer schwerwieg­enden Verletzung“europäisch­er Grundwerte feststelle­n. Dabei handelt es sich um die Achtung der Menschenwü­rde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaa­tlichkeit und die Wahrung der Menschenre­chte. Das Verfahren wird jedoch in der ersten Stufe stecken bleiben. Denn um in einem zweiten Schritt nach Anhörung der polnischen Regierung festzustel­len, dass diese Ver- letzung der Rechtsstaa­tlichkeit weiterhin anhält, bedarf es Einstimmig­keit (Polen würde nicht mitstimmen). Dieser Einstimmig­keit steht jedoch das in Aussicht gestellte Veto Ungarns entgegen. Die rechtsnati­onale Fidesz-Regierung unter Viktor Orban´ hat Polen in dieser Frage Treue geschworen.

Polen wird also weder seine Stimmrecht­e im Rat verlieren, noch wird es auf andere Weise für seinen rechtsstaa­tswidrigen Umbau der Judikative bestraft werden. Dabei sind die Pläne der Regierung höchst problemati­sch. So plant sie zum Beispiel, alle Mitglieder des Höchstgeri­chts mit einem Streich zu entlassen und in den Ruhestand zu schicken. Die neuen Verfassung­srichter würden einem Disziplina­rrecht unterworfe­n, im Rahmen dessen der Justizmini­ster Disziplina­rverfahren einleiten können soll. Diese und andere geplante Änderungen würden dazu führen, dass „das polnische Justizsyst­em nicht mehr im Einklang mit europäisch­en Standards wäre“, resümierte die Kommission. (GO)

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