„Europa steht vor dem Ausverkauf“
Interview. Der Protektionismus ist keine reine Trump-Story, warnt der Ökonom Stephen King. Der ganze Westen wendet sich enttäuscht von der Globalisierung ab. Jetzt wird China zum Imperialisten.
Die Presse: Sie prophezeien das Ende der Globalisierung. Als ich zuletzt nachgesehen habe, kam mein T-Shirt aus der Türkei, meine Hose aus Bangladesch und mein Handy aus Südkorea. Warum soll sich das ändern? Stephen King: Der Teil der Globalisierung wird nicht unbedingt verschwinden. Es wird weiter internationalen Handel geben, obwohl die Wachstumsraten stark fallen. Aber Globalisierung ist mehr: Es ist ein Prozess, der Grenzen für Waren, Menschen und Kapital verschwinden lässt. In der Geschichte gab es viele solcher Phasen, aber ebenso viele, in denen sich die Entwicklung umgekehrt hat. Ich glaube, dass wir genau auf so eine Periode zusteuern. Was wir die vergangen 70 Jahre für selbstverständlich gehalten haben, wird verschwinden.
Wir haben alle gelernt, dass offene Märkte Wohlstand schaffen. Wer könnte ein Ende wünschen? Die Globalisierung hat nicht das geliefert, was der Westen erwartet hat. Nach dem Fall der Berliner Mauer war die Euphorie für freie Marktwirtschaften und liberale Demokratien auf dem Höhepunkt. Viele dachten, der Westen habe gewonnen und seine Ideen würden sich natürlich ausbreiten. Aber von 1989 bis heute hat nicht der Westen gewonnen, sondern die Volksrepublik China, ein Land, das weit entfernt davon ist, eine liberale Marktwirtschaft zu sein. Dennoch wuchs die Wirtschaft des Landes rasant, während sich die Entwicklung im Westen eingebremst hat. Hier sind die Lebensstandards in den vergangenen 30 Jahren viel langsamer gestiegen als zuvor. Der Aufstieg Chinas ist aber doch ein Argument für die Globalisierung und nicht dagegen, oder? Das stimmt. Eines ist wichtig zu betonen: Es ist der Westen, der seine Liebe zur Globalisierung verliert. Die Regierung Trump in den USA setzt voll auf Isolation und „America first“. Ähnliches erlebt Großbritannien mit dem Brexit. Und im Rest Europas sehen wir den Aufstieg rechtspopulistischer Parteien. China profitiert natürlich, wenn westliche Unternehmen ihre Werke da bauen, wo Arbeitskosten niedrig sind. Die Arbeitnehmer im Westen haben dadurch hingegen Verhandlungsmacht gegenüber den Arbeitgebern eingebüßt. Die Löhne steigen kaum und viele Menschen, die dachten, sie wären die großen Gewinner der Globalisierung, merken nun, dass das so gar nicht stimmt.
Ist die Kehrtwende zum Protektionismus also die letzte Chance für die Alte Welt? Man kann nicht viel dagegen tun, es ist ein historischer Prozess, der nun ablaufen wird. Aber die Rückkehr zum Nationalismus ist nicht wünschenswert. Wir werden zurückgeschleudert in die Zeiten des Kalten Kriegs. Interessant ist Chinas Rolle. Präsident Xi hat in Davos
(*1963) ist ein britischer Ökonom und Publizist. Bis 2015 war er Chefvolkswirt der weltgrößten Bank HSBC. Zuletzt war er als Seniorberater für das Kredithaus tätig. In seinem Buch „Grave New World: The End of Globalization, the Return of History“beschreibt er die Abkehr des Westens von der Globalisierung. Stephen King war auf Einladung der Oesterreichischen Kontrollbank (OeKB) in Wien. eine Lobrede auf die Globalisierung gehalten und eines klargemacht: Wenn Amerika nicht mehr mitzieht, übernimmt China. Wir steuern also auf eine Welt zu, in der zwei komplett unterschiedliche Varianten der Globalisierung miteinander konkurrieren: die amerikanische und die chinesische.
Europa war hier stets Verbündeter der USA. Andererseits nimmt Chinas Einfluss gerade in Osteuropa zu – Stichwort: Neue Seidenstraße. Was soll die EU tun? Wir leben in einer Post-KolumbusWelt. Europas Aufstieg begann kurz nachdem Kolumbus nach Amerika gesegelt ist. China arbeitet nun daran, die Prä-Kolumbus-Welt wieder herzustellen. Venedig war vor der Entdeckung der USA eine reiche Stadt, weil sie am Ende der Seidenstraße lag. Für Venedig hatte es gar keinen Sinn, in den Westen zu schauen. Die Stadt verstand sich als Endpunkt einer Geschichte, die aus dem Osten kam. So etwas werden wir nun öfter erleben.
Ist das eine gute Entwicklung? China ist zu groß, um ignoriert zu werden. Ganz egal, was man von den politischen Umständen dort hält. Die Frage ist auch, welche Alternative Europa bleibt, wenn es merkt, dass sich Amerika auch nach Trump nicht öffnen will.
Sie denken also, die Abschottung der USA ist nicht Trumps Werk? Es ist ein Fehler zu glauben, dass die Abkehr von der Globalisierung eine reine Trump-Story ist. Die USA werden auch nach ihm keine sonderliche Lust mehr haben, sich international groß einzubringen. Das beginnt beim Handel und endet bei der Nato. Warum halten Sie Trump für so einen kleinen Faktor? Die Politik in den USA und Europa hat sich grundlegend verändert. Der Kampf links gegen rechts ist von gestern. Heute verläuft die Debatte über alle Parteigrenzen zwischen Isolationisten und Globalisten. Bernie Sanders (linksdemokratischer Beinahe-Präsidentschaftskandidat, Anm.) war mit seiner Ablehnung der Globalisierung näher bei Trump als bei Hillary Clinton. Heute sagen viele Demokraten, mit Sanders wären ihre Chancen besser gewesen. Es kann gut sein, dass nächstes Mal zwei Isolationisten gegeneinander antreten werden.
Anders als mit den USA hat Europa mit China oft wirtschaftliche Konflikte. Ist da eine engere Zusammenarbeit denkbar? Den USA ging es nie nur darum, woher die Kleider kommen, sondern immer auch um die Globalisierung der westlichen Idee. Chinas Weg ist anders: Peking interessiert sich für Geschäfte und kümmert sich nicht darum, was die Staaten sonst machen. Diese limitierte Form der Globalisierung ist problematisch, weil es kein Grundverständnis über faire Handelspraktiken, Rechtssysteme etc. gibt. China wird zum widerstrebenden Imperialisten werden. Je mehr das Reich im Ausland investiert, desto eher wird es beginnen müssen, seine Investments auch zu schützen.
Welche Optionen hat Europa in diesem Szenario noch? Europa ist eine reiche, alternde Gesellschaft. Der Kontinent kann entweder junge Arbeiter aus dem Ausland holen, um sich zu verjüngen – aber das wird mehrheitlich abgelehnt. Oder Europa kann sein Familiensilber an den Höchstbietenden verkaufen. Große Teile Europas stehen vor dem Ausverkauf. Für viele Ältere ist es ein logischer Schritt, ihre Unternehmen an die Chinesen zu verkaufen. Nur die Jungen in Europa haben dann eben nichts mehr davon.
Was bleibt ihnen übrig? „Geht und arbeitet in China“, wäre eine simple Antwort. Genau das ist mit ein Grund, warum Populisten so starken Aufwind haben in Europa. Politische Entscheidungen fallen hier oft zugunsten der Älteren. Ihre Pensionen und Gesundheitsversorgung werden nicht angetastet. Umgekehrt kürzt man bei der Bildung der Jungen. Wenn man sich dann noch vor Augen führt, wie die Technologie deren Beschäftigungsverhältnisse verschlechtert, ist klar, warum viele Junge so wütend und sehr offen für riskante Experimente sind.