Was Karl Popper unserer neuen Regierung rät
Staatstheorie. Zu allen Themen, die derzeit in Österreich diskutiert werden, hat der Philosoph uns etwas zu sagen: zu Nationalismus und Zuwanderung, direkter Demokratie, Wahlrecht, Reformeifer und gesellschaftlichen Visionen.
Zwischen Optimismus und Pessimismus schwankte der Leitartikel der „Presse“am letzten Samstag: Es ging um das „neue Österreich“, die Chance einer völligen Neuaufstellung der Republik, einem „window of opportunity“für Reformen, aber auch um das Risiko, dass mit neuen Gesichtern und Schlagzeilen die alte Politik weiterbetrieben würde. Zeitgenossen, die Jahrzehnte mit der großen Koalition verbracht haben, haben offenbar einen gehörigen Überdruss am halbherzigen Herumprobieren entwickelt, es wird mit Stagnation gleichgesetzt. Es fehlt, um es in der Fußballersprache zu sagen, der Zug zum Tor.
Der sehnsuchtsvolle Ruf nach einer politischen Neustrukturierung erinnert an Otto Neuraths politische Metapher vom Schiff. Der Philosoph, Mitglied des Wiener Kreises, sah das politische Leben als Schiff, das auf dem weiten Ozean liegt und wegen seiner Größe in keine Werft passt. Alle Reparaturen, Verbesserungen, Abänderungen sind daher auf offener See durchzuführen. Sie können nur stückweise erfolgen, eine Generalüberholung ist niemals möglich, die Gefahr eines Schiffbruchs ist allzu groß: „Wie Schiffer sind wir, die ihr Schiff auf offener See umbauen müssen, ohne es jemals in einem Dock zerlegen und aus besseren Bestandteilen neu errichten zu können.“
Betrachtet man die Geschichte Europas, sieht man, dass viel Übel dadurch entstanden ist, dass man glaubte, eine Gesellschaft völlig neu konstruieren zu können, es führte in der Regel zu inhumanen politischen Systemen. Gesellschaftsformen, die behutsam regulierend sind und an den notwendigen Stellen die immer neu entstehenden Schäden reparieren, waren für das Wohlergehen der Allgemeinheit hingegen positiv. Dazu gehört etwa die soziale Marktwirtschaft. Bestehende Traditionen soll und darf man zwar immer kritisch hinterfragen, sie über den Haufen zu werfen, ist wenig zuträglich. Das gilt auch für bewährte Institutionen, sie sind in Österreich derzeit unter Beschuss (Stichwort Föderalismus, Kammern, Sozialversicherung).
Das Dilemma ist offenkundig: entweder Risiko oder Vorsicht. Die Kunst, aus dem zur Verfügung Stehenden das Beste zu machen, gerät leicht in Verruf. Gestaltet man nur dann um, wenn es gar nicht mehr anders geht, dann erscheint das Ergebnis als unbefriedigendes und uneinheitliches Flickwerk. Die Menschen, die sich von einer neuen Regierung erwarten, dass sie die Welt aus den Angeln hebt, sind unzufrieden und enttäuscht über das stückweise Vorgehen.
Die Politik der kleinen Schritte hat einen Befürworter in der Staatstheorie des großen Karl Popper. Den „Hofphilosophen der freien Welt“nennt ihn Jack Nasher in seiner neuen Studie („Die Staatstheorie Karl Poppers“). Popper prägte den Begriff von der „Offenen Gesellschaft“, der zu einem geflügelten Wort wurde und heute wieder Aktualität erlangt hat. Sie ist das Gegenteil der Planungsutopie und ist interessiert an Veränderung und Öffentlichkeit der Debatte.
Ein neues Gewand statt Flickwerk
sollen durchaus ehrgeizig sein, doch man sollte sich immer bewusst sein, wenn man Glück auf Erden erreichen will, „dass sich die Vollkommenheit, wenn sie sich überhaupt erreichen lässt, in weiter Ferne befindet“(Popper). Daher gilt es, an der Beseitigung konkreter Missstände zu arbeiten statt an der Verwirklichung abstrakter Ideale.
Macht man Politik der kleinen Schritte und behutsame Eingriffe, hat man die Möglichkeit, sie dauernd zu verbessern: „Es sind dies ja Pläne für einzelne Institutionen, zum Beispiel für die Kranken- oder Arbeitslosenversicherung, für Schiedsgerichte, für Budgetvorschläge zur Bekämpfung von Wirtschaftskrisen oder für Erziehungsreform. Wenn sie fehlschlagen, dann ist der Schaden nicht allzu groß und eine Wiederherstellung des früheren Zustandes nicht allzu schwierig.“
Das ist für Popper der entscheidende Unterschied zum Verfolgen einer Gesellschaftsutopie: Utopisten gehen fälschlicherweise davon aus, dass wir einen Bauplan der zukünftigen Gesellschaftsordnung besitzen. Das könne zu einer unerträglichen Zunahme menschlichen Leids führen, das lehre die Geschichte. Ein ausgearbeiteter politischer Plan zur Glückseligkeit könne zur Hölle auf Erden führen.
Irrsinnige Idee des Nationalismus
Der Marxismus ist folgerichtig für Popper nichts als ein „metaphysischer Traum“. Doch auch den Rechten, den Grenzschließern und Heimattümlern, hat Popper etwas entgegenzusetzen: „Das Prinzip des Nationalstaates ist nicht nur unanwendbar, es wurde außerdem niemals klar durchdacht. Es ist ein Mythos, ein irrationaler romantischer und utopischer Traum, ein Traum von Naturalismus und Stammeskollektivismus.“Grund dafür ist: „Die Bevölkerung Europas ist, wie jeder weiß, das Produkt von Völkerwanderungen. Das Resultat ist ein sprachliches, ethnisches und kulturelles Mosaik: ein Wirrwarr, ein Gemisch, das unmöglich wieder zu entwirren ist. Aber inmitten dieses europäischen Wirrwarrs ist nun die irrsinnige Idee des Nationalitätenprinzips entstanden.“
Auch zum Thema direkte Demokratie hat Karl Popper uns einiges zu sagen. Die Stimme des Volkes ist wichtig für ihn, doch er hält es für einen unglücklichen Irrtum, dass man den Begriff so oft wörtlich als „Volksherrschaft“versteht: „Wir können nicht alle regieren und dirigieren, aber wir alle können über die Regierung zu Gericht sitzen, wir können als Geschworene fungieren“, zitiert er Perikles. Demokratie versteht er eher als eine Art „Volksgericht“: Das Wahlvolk hat die Macht, eine Regierung unblutig wieder zu entfernen. Am Wahltag hat der Bürger seine Schlüsselrolle, das Funktionieren der Demokratie hängt von ihm ab. Und man könne darauf vertrauen, dass er richtig entscheidet: „Obwohl ihnen wichtige Tatsachen oft nur in beschränktem Maße zugänglich sind, so sind doch die einfachen Leute oft weiser als die Regierungen, und wenn nicht weiser, so doch oft von besseren und großherzigeren Intentionen geleitet.“
Unklare Parteiverhältnisse und mühsame Koalitionssuche erschwere das Geschäft der Demokratie, Popper befürwortet daher das britische Mehrheitswahlrecht, das Verhältniswahlrecht verhindere oft den Wechsel und verwische die politische Verantwortung.
Man muss freilich Jack Nashers Schlusswort in seiner Popper-Studie recht geben, wenn er schreibt: „Ironischer Weise haftet Poppers Ideal der offenen Gesellschaft ebenfalls etwas Utopisches an. Es gibt sie nicht, die Menschheit, die nur durch Vernunft geleitet wird.“Doch jemand, der sich mit dieser Theorie auseinandersetzt, wird wohl immunisiert werden gegen die Gefahr, die offene Gesellschaft abzuschaffen und angehenden starken Führern, die eine neue Gesellschaft umsetzen wollen, dann auch noch zuzujubeln.