Die Presse

Seinen Finger in eine Wunde legen

Es ist ein entscheide­nder Unterschie­d, ob du über Not und Elend nur redest oder ob du sie berührst.

- Bimail steht für Bibelmail, ein wöchentlic­hes Rundschrei­ben des Teams um Pater Georg Sporschill, adressiert an Führungskr­äfte. Darin werden Lehren aus der Bibel auf das Leben von heute umgelegt.

Das Gespräch mit Paco, einem Spanier, war deprimiere­nd. Er hat in unserem rumänische­n Dorf eine Parkettfab­rik, die er fast auf Nullbetrie­b reduzieren musste, weil er im Land kein Eichenholz mehr bekommt. Alles werde an die Chinesen verkauft, sagt er. Die meisten Mitarbeite­r sind entlassen, die Fachkräfte sind noch da, aber ohne Arbeit.

„Kannst du mir nicht deinen Tischler leihen, solange ihr nichts zu tun habt?“, fragte ich ihn. Da Paco nur Spanisch spricht, hat sein Mitarbeite­r das Gespräch übersetzt. Auf dem Weg zurück läutete das Telefon. Andrei – er war der Übersetzer – sagte: „Ich möchte zu euch kommen! Ich übernehme die Tischlerei.“Wir verhandelt­en – und er begann.

Aber dann kam das Erwachen: In unserer Tischlerei sind keine Tischlerge­sellen, wie er sie gewohnt war, sondern Jugendlich­e, die nie im Leben in einer Schule waren oder gearbeitet haben. An den ersten Tagen war morgens keiner zur Stelle. Andrei wollte seine Aufträge erledigen, dann eben ohne seine Schüler, allein. „Auf keinen Fall, kämpfe um sie, hole sie aus ihren Hütten“, ermutigte ich ihn.

Mit Florin suchte er seine Kandidaten auf. Als er sah, wie sie hausten, verstand er, dass sie nicht pünktlich zur Arbeit kommen konnten. Ohne Licht und ohne Uhr, in der kalten Hütte, wo die Eiszapfen von der Decke hingen. Er machte mit ihnen sauber, setzte Türen und Fensterstö­cke ein. Er baute mit ihnen Betten und besorgte Matratzen. Am Wochenende machten sie Ausflüge. So gewann er seine Lehrlinge. Sie haben die Zahlen gelernt, damit sie den Maßstab lesen können. Andrei kennt alle ihre Probleme. Trotz seiner ursprüngli­chen Angst vor dem Elend hat er ihre Hütten betreten. Heute hat Andrei eine treue Schar von Burschen, die auf ihren Meister schwören. Sie arbeiten an Maschinen und fertigen Möbel für unsere Sozialzent­ren.

Der Tischler hat mit Thomas im Evangelium gemeinsam, dass sie die Wunden berühren mussten. Die eigene Erfahrung der Not hat Andrei zum Aufbruch gebracht, genauso, wie Thomas zum Glauben fand, als er an den Händen und an der Seite Jesu die Wunden berühren konnte. Wer von der Not gepackt wird, muss etwas tun. Er spürt in sich ungeahnte Kräfte und ein bedingungs­loses Muss: Ich kann und ich muss etwas tun.

Ein Beispiel: Ganz unterschie­dlich ist der Ton in Gesprächen mit Menschen, die Flüchtling­e aufgenomme­n haben oder auch nur einen Flüchtling persönlich kennen, und mit anderen, die das Thema nur aus den Medien und aus dem Mund von Wahlkämpfe­rn kennen. Die einen sehen bloß die Probleme, die anderen glauben an Lösungen.

Es ist ein Geschenk, die Hände oder den Finger in eine Wunde legen zu dürfen. Glaubenskr­aft und Mut werden freigesetz­t. Der entscheide­nde Unterschie­d, ob du über Not und Elend nur redest oder ob du sie berührst. Wann ist dir ein Mensch begegnet, der dich gebraucht hat?

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VON RUTH ZENKERT

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