Seinen Finger in eine Wunde legen
Es ist ein entscheidender Unterschied, ob du über Not und Elend nur redest oder ob du sie berührst.
Das Gespräch mit Paco, einem Spanier, war deprimierend. Er hat in unserem rumänischen Dorf eine Parkettfabrik, die er fast auf Nullbetrieb reduzieren musste, weil er im Land kein Eichenholz mehr bekommt. Alles werde an die Chinesen verkauft, sagt er. Die meisten Mitarbeiter sind entlassen, die Fachkräfte sind noch da, aber ohne Arbeit.
„Kannst du mir nicht deinen Tischler leihen, solange ihr nichts zu tun habt?“, fragte ich ihn. Da Paco nur Spanisch spricht, hat sein Mitarbeiter das Gespräch übersetzt. Auf dem Weg zurück läutete das Telefon. Andrei – er war der Übersetzer – sagte: „Ich möchte zu euch kommen! Ich übernehme die Tischlerei.“Wir verhandelten – und er begann.
Aber dann kam das Erwachen: In unserer Tischlerei sind keine Tischlergesellen, wie er sie gewohnt war, sondern Jugendliche, die nie im Leben in einer Schule waren oder gearbeitet haben. An den ersten Tagen war morgens keiner zur Stelle. Andrei wollte seine Aufträge erledigen, dann eben ohne seine Schüler, allein. „Auf keinen Fall, kämpfe um sie, hole sie aus ihren Hütten“, ermutigte ich ihn.
Mit Florin suchte er seine Kandidaten auf. Als er sah, wie sie hausten, verstand er, dass sie nicht pünktlich zur Arbeit kommen konnten. Ohne Licht und ohne Uhr, in der kalten Hütte, wo die Eiszapfen von der Decke hingen. Er machte mit ihnen sauber, setzte Türen und Fensterstöcke ein. Er baute mit ihnen Betten und besorgte Matratzen. Am Wochenende machten sie Ausflüge. So gewann er seine Lehrlinge. Sie haben die Zahlen gelernt, damit sie den Maßstab lesen können. Andrei kennt alle ihre Probleme. Trotz seiner ursprünglichen Angst vor dem Elend hat er ihre Hütten betreten. Heute hat Andrei eine treue Schar von Burschen, die auf ihren Meister schwören. Sie arbeiten an Maschinen und fertigen Möbel für unsere Sozialzentren.
Der Tischler hat mit Thomas im Evangelium gemeinsam, dass sie die Wunden berühren mussten. Die eigene Erfahrung der Not hat Andrei zum Aufbruch gebracht, genauso, wie Thomas zum Glauben fand, als er an den Händen und an der Seite Jesu die Wunden berühren konnte. Wer von der Not gepackt wird, muss etwas tun. Er spürt in sich ungeahnte Kräfte und ein bedingungsloses Muss: Ich kann und ich muss etwas tun.
Ein Beispiel: Ganz unterschiedlich ist der Ton in Gesprächen mit Menschen, die Flüchtlinge aufgenommen haben oder auch nur einen Flüchtling persönlich kennen, und mit anderen, die das Thema nur aus den Medien und aus dem Mund von Wahlkämpfern kennen. Die einen sehen bloß die Probleme, die anderen glauben an Lösungen.
Es ist ein Geschenk, die Hände oder den Finger in eine Wunde legen zu dürfen. Glaubenskraft und Mut werden freigesetzt. Der entscheidende Unterschied, ob du über Not und Elend nur redest oder ob du sie berührst. Wann ist dir ein Mensch begegnet, der dich gebraucht hat?