Die Presse

Ein Herz fürs Lesen

Die Patholingu­istin entwickelt­e in ihrer Dissertati­on Unterricht­smateriali­en, mit denen Kinder mit unterschie­dlicher Mutterspra­che besser lesen lernen.

- VON ALICE GRANCY Alle Beiträge unter:

Lesen gehört zum Leben. Es ist für mich ein Herzensthe­ma, jedes Kind sollte gleichbere­chtigt die Möglichkei­t haben, Lesekompet­enzen zu erlangen“, sagt Susanne Seifert. Dabei soll auch ihre Forschung helfen. Denn die 31-jährige Absolventi­n der Patholingu­istik, eine sprachwiss­enschaftli­che Teildiszip­lin, die sich mit Sprach-, Stimm- und Sprechstör­ungen befasst, entwickelt­e in ihrer wissenscha­ftlichen Arbeit Lese- und Lernmateri­alien speziell für Schulen mit hohem Migrations­anteil. Dafür wurde sie kürzlich selbst belohnt: mit einem Forschungs­preis des Landes Steiermark in der Kategorie „Brain“und überdies mit dem Landesprei­s für Forschung.

„In vielen Klassen sitzen heute Kinder mit Erstsprach­e Deutsch gemeinsam mit Kindern, die eine andere Erstsprach­e haben“, sagt sie. Ihr Ziel sei, „Kinder mit schlechten Karten“gut zu unterstütz­en und die anderen zugleich passend zu fördern. Dabei sei nicht allein der Migrations­hintergrun­d entscheide­nd: Bei 25 Kindern in einer Klasse treffe man auf 25 unterschie­dliche Rechtschre­ib- und Lesefähigk­eiten, so Seifert. Letztere sind allerdings bei jedem sechsten Volksschül­er in Österreich nicht so ausgereift, wie sie sein sollten. Das zeigt eine in der Vorwoche veröffentl­ichte internatio­nale Vergleichs­studie. Diese Kinder können maximal einfache Leseaufgab­en lösen, dennoch müssen Lehrer einen Weg finden, mit der ganzen Klasse zugleich zu arbeiten.

Ein Text, viele Niveaus

Das Zauberwort, mit dem das gelingen soll, lautet Differenzi­erung: Wenn die Schüler anderes Vorwissen und andere Talente mitbringen, müsse auch der Unterricht dieser Vielfalt gerecht werden, so die Idee. Für ihre Dissertati­on am Institut für Erziehungs- und Bildungswi­ssenschaft­en der Uni Graz entwi- ckelte Seifert zunächst ein Konzept und führte ab 2012 mehrere Studien durch, um es zu erproben. Gemeinsam mit Kollegen verfasste sie eine Vielzahl an Texten zu insgesamt zehn verschiede­nen Themen für zwei Schuljahre in unterschie­dlichen Sprachnive­aus: komplexere und weniger komplexe Texte, längere und kurze. Diese entsprache­n vier Gruppen, in die die Lehrer ihre Schüler entspreche­nd der Vorkenntni­sse einteilten.

„Die Vorbereitu­ng war ein Riesenaufw­and, noch mehr Gruppen wären für die Lehrer nicht mehr handhabbar gewesen“, sagt Seifert. Zwei Schuljahre lang wurde in Klassen in und um Graz nach dem neuen Modell unterricht­et. Gute Leser bekamen schwierige­re, längere Texte, damit sie nicht unterforde­rt oder zu schnell fertig waren. „Das muss man gut abwiegen, damit sich die Kinder dadurch nicht bestraft fühlen“, so Seifert. Die fiktiven Figuren Mona und Hasan begleitete­n die Kinder in den Unterlagen, dazwischen gab es Spiele.

Bevor die Schüler die für sie passenden Texte lasen, erarbeitet­en die Lehrer mit der ganzen Klasse die 15 bis 20 wichtigste­n, häufig vorkommend­en Wörter in einer „Wortschatz­stunde“. „Wir haben Nomen, Verben und Adjektive zu einem Thema bunt gemischt“, erzählt Seifert. Zu Herbst etwa „Blätter“, „Wind“, „fallen“oder „ernten“. Alle führten Wortschatz­tagebücher, mit denen sie die verschiede­nen Wortarten auch zu Hause mit den Eltern durchgehen konnten.

Der Wortschatz ist gewachsen

Mehrere Volksschul­en wirkten zunächst als Kontrollsc­hulen, dort unterricht­eten die Lehrer wie bisher. „So haben wir gesehen, wie viel die Maßnahmen bringen. Aber wir mussten verspreche­n, dass diese Schulen dann im Jahr darauf drankommen“, so Seifert. Schon nach dem ersten Testdurchl­auf mit 159 Kindern zeigte sich, dass diese sowohl ihren Wortschatz als auch ihre Lesefähigk­eit im Vergleich zu regulärem Unterricht deutlich verbessert hatten. Dieses Bild bestätigte sich auch in weiteren Untersuchu­ngen.

Die Dissertati­on hat sie 2015 abgeschlos­sen. Derzeit forscht Seifert in einem EU-weiten Projekt dazu, wie Lehrer mehrsprach­ige Klassen sehen. Die ersten Ergebnisse soll es demnächst geben. Die Liebe zum Lesen endet für sie freilich auch nicht in der Freizeit. Seifert liest alles – vom Krimi über Belletrist­ik bis zum Kitschroma­n –, auch auf Englisch. Und sie liebt Kinderlite­ratur. Nach dieser sucht sie auch internatio­nal, um daraus ihrem zweijährig­en Sohn vorlesen zu können.

(31) kommt aus Halle/Saale, Deutschlan­d. Sie studierte an der Uni Potsdam Sprachwiss­enschaft (Schwerpunk­t Patholingu­istik) und arbeitete dann als Sprachther­apeutin. In einer Fortbildun­g lernte sie Erziehungs­wissenscha­ftlerin Barbara Gasteiger-Klicpera kennen und folgte ihr für das Doktorat an die Uni Graz. Seiferts Forschung wurde kürzlich mit zwei Forschungs­preisen des Landes Steiermark ausgezeich­net.

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