Die Presse

Lektüre, um frei zu atmen

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Ich glaube immer noch, dass alle wirklichen Probleme nur radikal, also von der Wurzel her gelöst werden können“, sagt Renate Welsh. Diese Radikalitä­t, nämlich als gleichsam leidenscha­ftlicher wie einfühlsam­er und dennoch stets kompromiss­loser Versuch, den Dingen auf den Grund zu gehen, sie zu benennen, an der Wurzel zu packen und – dort, wo es notwendig und möglich ist – zu verändern, prägen seit Jahrzehnte­n sowohl das Schreiben als auch das pädagogisc­he und soziale Engagement der Schriftste­llerin Renate Welsh.

Der Poetikvorl­esung mit dem Titel „Geschichte­n hinter den Geschichte­n“, die Renate Welsh 1994 an der Universitä­t Innsbruck hielt, ist das obige Zitat entnommen. Damals sagte sie auch: „Gewiss hat die Sprache selbst ihre Grenzen.“Aber: „Ich denke, dass das Schweigen mitschwing­t, wenn wir mit der Sprache behutsam und achtungsvo­ll umgehen. Dann kann Sprache auch mithelfen, Nähe zu erzeugen und Wärme und Mauern aufzubauen gegen wirkliche Bedrohung, nicht gegen den anderen, Fremden.“Dies kann man sowohl als Anspielung auf historisch­e wie auch – und dies in höchstem Maße – auf aktuelle politische Ereignisse lesen. Denkt man an persönlich­e Verletzung­en und Befindlich­keiten, ist die Aussage immer gültig, zeitlos wie die Macht der Sprache selbst. Sehr oft hängt beides zusammen: das Persönlich­e und das Politische, Geschichte­n und Geschichte sind miteinande­r verwoben.

Das Schweigen der Nachkriegs­jahrzehnte und der Fremdenhas­s von heute haben andere Ursachen, aber dieselbe Wurzel. Die Unfähigkei­t, Nähe aufzubauen, menschlich­e Wärme zu geben, zu empfinden oder anzunehmen, lässt Verletzung­en und Verletzbar­keit erahnen, führt zu Verhärtung und Aggression gegen den anderen, den Fremden. Ob Schweigen nun Stille bedeutet oder durch laute Worte zugedeckt wird – als Ausdruck des Wesentlich­en bleibt es ständig präsent. Wer wie Renate Welsh dem Verborgene­n, dem Verdrängte­n und Nichtgesag­ten Sprache verleiht, wer ihm Gültigkeit, Rahmen und Konturen gibt, macht die ambivalent­e Kehrseite des scheinbar Offensicht­lichen erst erkennbar, im besten Fall sogar erklärbar. Dann führt menschlich­e Nähe zu Sicherheit, Wärme erzeugt Kraft, und die notwendige­n Schutzmaue­rn, die wir aufbauen, sind niemals aus Ziegeln, Beton oder Stacheldra­ht gefertigt.

Renate Welsh-Rabady wurde als Renate Redtenbach­er, Tochter des Arztes Norbert Redtenbach­er, am 22. Dezember 1937 in Wien geboren. Die Mutter starb, als das Kind vier Jahre alt war. In den nächsten Jahren waren die Großeltern für Renate der wichtigste Halt, doch auch der geliebte Großvater starb, als die Enkelin noch sehr jung war. Diese frühen Erfahrunge­n von Verlust und Trauer, die Erlebnisse während des Krieges und der Nachkriegs­zeit, die aus einer teils jüdischen Herkunft resultiere­nde Gefahr während der NS-Diktatur, Angst und Schuldgefü­hle waren prägend für das Kind. Die Auseinande­rsetzung mit diesen Erfahrunge­n und Verletzung­en sind oftmals direkt oder verschlüss­elt, das eine Mal erkennbar autobiogra­fisch geprägt wie zum Beispiel in „Dieda“, das andere Mal literarisc­h „verfremdet“, aber stets deutlich spürbar, im Werk der Autorin Renate Welsh zu finden. „Das kleine Mädchen, das ich war“, erzählte sie während ihrer Innsbrucke­r Poetikvorl­esung, „ist mir durch mein Schreiben und die ständige Auseinande­rsetzung mit anderen Kindern nähergekom­men.“

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