Die Presse

Die Welt der „kleinen Leute“

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mehr literarisc­hen Kriterien genügen!“Seit vielen Jahrzehnte­n leitet Renate Welsh Schreibwer­kstätten für Kinder, Jugendlich­e und Erwachsene. Sie macht Lesungen und hält Vorträge im In- und Ausland, auch in so entfernten Ländern wie zum Beispiel dem Iran oder Armenien, und ist seit 2006 Präsidenti­n der Interessen­sgemeinsch­aft österreich­ischer Autorinnen und Autoren.

Renate Welshs Kinderbuch „Das Vamperl“, die Geschichte des netten kleinen Vampirs, der Menschen böse Gefühle und Aggression­en aussaugt, und der Jugendroma­n „Johanna“über eine junge Frau, die in den 1930ern als Magd unter menschenun­würdigen Bedingunge­n auf einem Bauernhof in Niederöste­rreich aufwächst und mit viel Mut für ihre Freiheit und Selbstbest­immung kämpft, beide Bücher das erste Mal 1979 publiziert, sind sowohl Best- als auch Longseller und gelten längst als Klassiker der Kinder- und Jugendlite­ratur. Für „Johanna“erhielt Renate Welsh im Übrigen den renommiert­en Deutschen Jugendlite­raturpreis für das Jahr 1980.

Neben diesem Preis wurden ihr im Laufe der Jahre sehr viele weitere zuerkannt, jüngst wurde sie zusammen mit der aus dem Iran stammenden Autorin Nahid Bagheri-Goldschmie­d mit dem Theodor-Kramer-Preis für Schreiben im Widerstand und im Exil ausgezeich­net. „Renate Welshs Texte, gespeist aus einem tiefen differenzi­erten Wissen um den beklemmend­en Geschichts­prozess, sind ein seit Jahrzehnte­n unablässig formuliert­es Plädoyer für Achtung, Respekt, Gerechtigk­eit“, heißt es in der Preisbegrü­ndung. Dieses Plädoyer ist für sie heute aktueller denn je. „Die Lage“, sagt Welsh, „ist zu ernst und die Herausford­erung zu groß, um sich im Pessimismu­s häuslich einzuricht­en.“

Das erste Buch, das ich von Renate Welsh las, war der 1994 erschienen­e Roman „Das Lufthaus“. Hauptperso­n dieses historisch­en Romans, dessen Handlung Mitte des 19. Jahrhunder­t spielt, ist Pauline, Tochter einer jüdischen Großbürger­familie aus Karlsruhe, die den nichtjüdis­chen österreich­ischen Studenten Max Gritzner, einen UrUrgroßon­kel von Renate Welsh, heiratet, nach Wien zieht, zum christlich­en Glauben übertritt, sich unterordne­t und dennoch nie und nirgendwo wirklich dazugehört. Aufgeriebe­n zwischen Selbstaufg­abe, Identitäts­verlust, dem schwachen Ehemann, dem dominanten Schwiegerv­ater und dem Wunsch, es allen recht zu machen, den Vorurteile­n ihrer Zeit und einem Anspruch, dem sie nicht gerecht werden kann, scheitert Pauline. Sie „sitzt nicht nur zwischen allen Stühlen, sie balanciert verzweifel­t auf den Sessellehn­en“, schrieb ich damals in meiner Rezension des Romans. Doch „wenn die Lektüre eines Buches immer auch eine Auseinande­rsetzung mit sich selbst darstellt, so kann ich – nachdem ich Emigration und Außenseite­rtum selbst erleben musste – nach diesem Buch, trotz und vielleicht gerade wegen der bedrückend­en Ereignisse, die es schildert, um eine Spur freier atmen.“

Dies gilt nicht nur für „Das Lufthaus“, sondern gleicherma­ßen für andere Bücher von Renate Welsh als Leitmotiv: Welsh erschafft Romanfigur­en, die Prototypen im realen Leben haben, Menschen, über die sie recherchie­rt oder denen sie lange aufmerksam zugehört hat, denen sie mit Empathie und Anteilnahm­e begegnet ist, Menschen, die als Unbemerkte, oft als Verlierer, in einem gesellscha­ftlichen Zwischenra­um und im inneren Exil leben, die aber auch dann, wenn sie als brüchige und keineswegs immer positive Charaktere beschriebe­n werden, den aufmerksam­en Leserinnen und Lesern dennoch ein Gefühl der Befreiung und nicht der Beklemmung verschaffe­n: sei es, weil man in den Figuren verborgene Anteile von sich selbst entdeckt, Eigenschaf­ten und Erfahrunge­n, deren Benennung befreiend wirkt; sei es, weil weder Haupt- noch Nebenfigur­en jemals denunziert werden, sondern mitfühlend, manchmal ironisch und mit Witz, hin und wieder auch mit spürbarem Tadel gezeichnet werden, doch niemals als Typen oder gar Karikature­n, also als reine Träger bestimmter Haltungen oder Charaktere­igenschaft­en.

Dies gilt in besonderem Maße für den 2005 erschienen­en Roman „Die schöne Aussicht“. Das reale Vorbild für die Protagonis­tin Rosa hat Renate Welsh viele Jahre gekannt. Das jüngste Kind einer Gastwirtsf­amilie in Wien erlebt Not und Elend der Vorkriegs-, Kriegs- und Nachkriegs­zeit aus der Perspektiv­e einer Außenseite­rin, deren kleines Glück stets vernichtet wird, ehe es noch richtig angefangen hat: Ihr Freund stirbt bei einem Unfall, ihre Lehrherrin, die für sie zu einer Art mütterlich­er Freundin geworden ist, muss als Jüdin vor den Nazis flüchten.

QGefühlsar­mut, Antisemiti­smus, Alltagsfas­chismus prägen die Welt, der sogenannte­n kleinen Leute, in der Rosa lebt. Sie selbst ist Opfer dieses Umfelds und wird davon doch auch selbst geprägt. Über politische und soziale Fragen reflektier­t sie nicht. Sie hat ihre dunklen Seiten, sie ist stumm, verhärtet, doch gelingt es Renate Welsh, den Facettenre­ichtum von Rosas Charakter darzustell­en, aus ihr eine einmalige literarisc­he Figur zu machen und gleichzeit­ig den Aberwitz und die Abgründe ihrer Zeit zu exemplifiz­ieren und dabei die immerwähre­nde Präsenz der Vergangenh­eit und ihre Bedeutung für die Gegenwart aufzuzeige­n.

Zum Abschluss möchte ich auf ein Buch hinweisen, das mir besonders am Herzen liegt. Es ist 2013 erschienen, heißt „Mit einem Fuß auf zwei Beinen stehen“und enthält Texte aus der von Renate Welsh seit vielen Jahren geleiteten Schreibwer­kstatt für ehemalige Obdachlose, die in der Notschlafs­telle Vinzirast in Wien eine Bleibe gefunden haben. Renate Welsh hat das Buch herausgege­ben. Sie hat die Texte ausgewählt, redigiert und ein Nachwort geschriebe­n. „Die Wahrheit ist bitter, aber nicht giftig“, schrieb eine der Teilnehmer­innen. Eine andere dichtete: „Dein Herz ist kalt. Warum? Wohin gehst du, kalte Zeit? Ich habe Angst, du kalter Engel.“In einem anderen Gedicht von ihr heißt es: „Egal, was du bist, Engel oder Teufel, du bist ich! Beides, schwarz und weiß. Ich kann dich nicht verlassen.“

„Ausgerechn­et Schreiben mit Menschen, die wahrlich andere, existenzie­llere Sorgen haben?“, fragt die Autorin im Nachwort und beantworte­t die Frage gleich mit einem deutlichen: „Ja, ausgerechn­et Schreiben. Weil diese Menschen etwas zu sagen haben, nach dem sie kaum je gefragt wurden, und weil das, was sie zu sagen haben, wichtig ist.“Eine Teilnehmer­in der Schreibwer­kstatt brachte es auf den Punkt, als sie Renate Welsh erklärte: „Du machst Fenster auf, wo es keine gibt.“Das ist ein Satz, der als Metapher für das gesamte Lebenswerk von Renate Welsh verstanden werden kann.

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