Der gute Mensch von Köln
Eine Zeit lang war er der erfolgreichste deutsche Schriftsteller. Bereits 1961 betrug die Gesamtauflage seines Werkes über zwei Millionen. Elf Jahre später erhielt er den Nobelpreis für Literatur. Zwei Jahre danach erschien sein berühmtester Roman: „Die verlorene Ehre der Katharina Blum“wurde in 31 Sprachen übersetzt, und 2,7 Millionen Exemplare davon gingen über die Ladentische. Er war eine deutsche Institution, das Gewissen der Nation. Und wer spricht heute noch von Heinrich Böll?
Sagt das Vergessen des vor 100 Jahren – am 21. Dezember 1917 – geborenen Autors etwas über sein Werk aus, über das Land, über seine Zeit? Wohl über alle drei und noch einiges darüber hinaus. Ein guter Grund, sich mit Heinrich Böll wieder zu beschäftigen. Im Nachkriegsdeutschland galt er als der Vertreter der engagierten Literatur schlechthin. Diese knüpfte an die von E´mile Zola mit seinem „J’accuse“(1898) begründete Tradition an, sich als Intellektueller in die Tagespolitik einzumischen. Die Rheinländer haben stets eine größere Affinität zum (französischen) Westen als zum (preußischen) Osten gehabt. Der gebürtige Kölner Böll hat deshalb mit dem französischen Dichterphilosophen Jean-Paul Sartre, der den Begriff der Poesie´ engagee´ ausgefüllt hat wie kein anderer, mehr gemeinsam als mit dem Ostpreußen Günter Grass.
Sartre und Böll haben sich von einer Partei nie so vereinnahmen lassen wie Grass von der SPD. Zu groß war deren Bedürfnis nach Unabhängigkeit. Sartre ging darin so weit, den Nobelpreis für Literatur abzulehnen, was Grass nicht eingefallen wäre, selbst wenn ihm statt Böll diese Auszeichnung bereits 1972 (statt erst 1999) zugesprochen worden wäre. Als Böll auf dem Weg nach Israel die Nachricht von der Entscheidung der Schwedischen Akademie in Griechenland überraschte, dachte er keine Sekunde daran, die Reise abzubrechen. Später schrieb er dazu an Alfred Andersch: „Ich bin schon eitel genug – jetzt geht meine Eitelkeit eher zurück.“In diesem Jahr 1972 konnte sich Böll dann gerade einmal durchringen, dem Personenkomitee für Willy Brandt beizutreten, eine Wahlempfehlung für dessen Partei wäre ihm nicht über die Lippen gekommen.
Böll hat die Rolle, die er in der deutschen Öffentlichkeit der Wirtschaftswunderjahre gespielt hat, nicht gesucht. Aber er hat
Heinrich Böll Man möchte manchmal wimmern wie ein Kind Die Kriegstagebücher 1943 bis 1945. 352 S., geb., € 22,70 (Kiepenheuer & Witsch Verlag, Köln) Jochen Schubert Heinrich Böll 352 S., 30 SW-Abb., geb., € 30,80 (Theiss Verlag, Darmstadt) Ralf Schnell Heinrich Böll und die Deutschen 240 S., geb., € 19,60 (Kiepenheuer & Witsch Verlag, Köln) sie angenommen. Im April 1954 erscheint ein Essay von ihm in der der CDU nahestehenden „Kölner Tageszeitung“. In „Auferstehung des Gewissens“berichtet Böll von einer Lesung Paul Celans in einer Kölner Schule, bei der der Dichter auf völlige Unkenntnis der Schüler am Genozid an den Juden gestoßen ist. Die Leserschaft ist sofort polarisiert: Zustimmung trifft auf Empörung mit antisemitischen Untertönen. Mit einem Schlag ist Böll zur öffentlichen Figur geworden. Er hat den weithin unbekannten Dichter zwei Jahre davor bei einer Tagung der Gruppe 47 kennengelernt. Celan hat dort sechs Gedichte vorgelesen – und ist durchgefallen. Böll hat sich sofort mit ihm solidarisiert. Schon dafür kann man ihn mögen. Um wie viel mehr für seine Haltung, als er selbst unter Beschuss geraten ist.
Dafür ist ebendieses Jahr 1972 symptomatisch. Nicht nur von der Springer-Presse, sondern in sämtlichen bürgerlichen Medien wurde er als Terroristenfreund denunziert, als Anfang 1972 ein Artikel von ihm im „Spiegel“erschien, der im Titel fragte: „Will Ulrike Gnade oder freies Geleit?“Gemeint war die Mitbegründerin der Roten Armee Fraktion (RAF), Ulrike Meinhof. Sie befand
Qsich nach der gewaltsamen Befreiung von Andreas Baader aus der Haft auf der Flucht. Böll richtete sich in seinem Artikel gegen die notorische Vorverurteilung in der „Bild“Zeitung, schrieb aber auch, dass sich die Baader-Meinhof-Gruppe „im Kriegszustand mit der Gesellschaft“befinde. Die Hetzkampagne gegen ihn im auflagenstärksten Blatt Deutschlands verhinderte das nicht. Dass der linke „Spiegel“seinen Anteil daran hatte, erfuhr die Öffentlichkeit später. Bölls für den Text vorgesehener Titel hieß „So viel Liebe auf einmal“und war trotz seiner Bitte, keine Änderung ohne Rücksprache vorzunehmen, ausgetauscht worden. Einige Medien verhängten Publikationsverbot über ihn, und die Bonner Republik, der er jahrelang ihre Kontinuitäten mit dem Dritten Reich vorgehalten hatte, rächte sich durch eine Hausdurchsuchung bei seinem Sohn.
Man kann darüber spekulieren, was aus dem seinerzeit mitunter belächelten rheinischen Gutmenschen geworden wäre, hätte er 50 Jahre früher oder später das Licht der Welt erblickt. Tatsache ist, dass sein Leben und sein Werk ganz im Banne des Kriegstraumas standen. Davon kann man sich jetzt ein eindrucksvolles Bild machen. Unter dem Titel „Man möchte manchmal wimmern wie ein Kind“hat Bölls Sohn Rene´ die Kriegstagebücher seines Vaters aus den Jahren 1943 bis 1945 mit Faksimiles ediert. Daraus geht hervor, auf welch verlorenem Posten er als auf Hitler vereidigter Soldat stand. Kurz vor dem Überfall auf Polen war Heinrich im Sommer 1939 zum Wehrdienst eingezogen worden. Nach Stationen in Polen, Frankreich, Russland, der Krim und zuletzt wieder in Frankreich brachte er es in fünfeinhalb Jahren Soldatendasein bloß zum Obergefreiten. In der Wehrmacht keine Karriere machen zu wollen entsprang seiner Einstellung, dass dieser Krieg „grausam, böse und schrecklich“sei. Das wiederum hat mit den Prägungen seiner Jugend zu tun.
Da war die katholische Tätowierung, die selbst Bölls Austritt aus der Kirche 1976 nicht ausradieren konnte. Sie imprägnierte ihn gegen jegliche Form von Institutionenhörigkeit und machte ihn nicht nur im Dritten Reich, sondern auch in der Republik zum Einzelgänger. Er fühlte sich nirgends zugehörig und niemandem verpflichtet. Das Unabhängigkeitsstreben war Teil seiner Popularität, weil das Publikum spürte, dass er nicht danach schielte oder sich dafür verbog. Mancher Kollege sah ihn dafür scheel an.
Und das Werk? Daran hangelt sich Jochen Schubert in seiner eben erschienenen Böll-Biografie entlang. Lebendiger ist allerdings Ralf Schnells Biografie nach Themen: „Heinrich Böll und die Deutschen“. In seinen Frankfurter Poetik-Vorlesungen (1964) breitete Böll seine „Ästhetik des Humanen“aus. Kernstück darin ist die von ReichRanicki missbilligte „Poetik der Waschküchen“. Die kolportagehaften Züge von Bölls Werk haben zu seinen Lebzeiten sicher zu ihrem großen Erfolg beigetragen. Ob seine Bücher uns heute noch etwas zu sagen haben, wäre einer Überprüfung wert.