Die Presse

Wohnen im Gewebe der Stadt

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Wer eine Wohnung kauft, kauft einen Stadtraum mit. Dessen Qualitäten bestehen – neben dem Image, das ein Stadtteil über die Jahre erworben hat – in der Verkehrsan­bindung, der Nahversorg­ung und dem Angebot an Grünfläche­n. Guter Stadtraum ist aber mehr: Er entsteht, wenn Bauwerke sich freundlich zueinander verhalten und eine Gebäudeges­ellschaft bilden, in der es respektvol­le Distanz ebenso gibt wie intensiven Dialog.

In der traditione­llen Stadt hat dieses Spiel von Distanz und Dialog Stadträume geformt, für die wir Namen haben: Straßen und Plätze, Höfe und Parks. Den Stadterwei­terungsgeb­ieten der 1960er- und 1970erJahr­e ist es nicht gelungen, auch nur annähernd so starke Begriffe zu prägen. Ihr Ideal war das Ensemble von Baukörpern, die frei in einem möglichst naturnah gestaltete­n Park stehen. In der Realität ist von dieser Vision in der Regel nur ein Abstandsgr­ün geblieben, für das sich niemand verantwort­lich fühlt.

Die aktuelle Boomphase der Wiener Stadtentwi­cklung bietet Gelegenhei­t, nach neuen Formen von Stadtraum zu suchen. Der Trend geht derzeit in Richtung einer Variation des Modells der 1960er- und 1970erJahr­e, wie man es zum Beispiel am Bebauungsp­lan für das Areal an der neuen Endstelle der U1 in Oberlaa sehen kann, der auf einen Wettbewerb aus dem Jahr 2015 zurückgeht. Es ist eine Art „Zuckerwürf­el-Städtebau“aus eng gestellten, aber voneinande­r isolierten Baukörpern. Dass wir uns im 21. Jahrhunder­t befinden und nicht in den 1960er-Jahren, erkennt man bestenfall­s daran, dass die Baukörper nicht orthogonal, sondern leicht schräg zugeschnit­ten sind und nicht im Raster stehen, sondern wie hingewürfe­lt wirken. Diese Bebauung mit unterschie­dlich hohen Punkthäuse­rn, die bis knapp unter die Hochhausgr­enze wachsen dürfen, ist ideal für jene Bauträger, die ihre Projekte ohne viel Dialog entwickeln möchten. Dem Aufwand, aus dem Abstandsgr­ün zwischen diesen Häusern brauchbare Grünräume zu machen, werden sie sich zu entziehen versuchen. Einen echten Park, den Kurpark Oberlaa, hat man eh gleich nebenan.

Auch wenn der Trend zu punktförmi­gen Strukturen derzeit dominiert, gäbe es Alternativ­en, die für Bauträger vielleicht weniger bequem sind, dafür aber besseren Stadtraum liefern. Ein Beispiel für eine solche Alternativ­e, die auf eine ältere Planung zurückgeht, wurde gerade fertiggest­ellt: „In der Wiesen Süd“baut auf einem städtebaul­ichen Wettbewerb auf, den das Büro Atelier 4 im Jahr 2009 gewonnen hat. Auch hier gab die Verlängeru­ng einer U-Bahnlinie, der U6 nach Siebenhirt­en, den Anstoß zur Entwicklun­g. Harry Glücks Terrassenh­äuser in AltErlaa liegen eine Station stadteinwä­rts.

Am südlichen Rand des Planungsge­biets, wo ein großes Industrieg­ebiet angrenzt, sieht der Plan von Atelier 4 eine geschlosse­ne Bebauung vor, eine Art dreige- schoßige Stadtmauer mit höheren Quertrakte­n, die auf diese Mauer punktuell weitere drei bis vier Geschoße aufsatteln. Diese Geschoßanz­ahl gibt auch die Bauhöhe in der nächsten Reihe hinter der Mauer vor, die dann kontinuier­lich nach Norden abfällt. Dabei sind zuerst Punkthäuse­r vorgesehen, die in hofartige, niedrigere Strukturen übergehen. Öffentlich­e Einrichtun­gen sind entlang einer grünen Achse im Zentrum auf die Erdgeschoß­e der Wohnbauten verteilt.

In einem Bauträgerw­ettbewerb, bei dem die Bauträger sich jeweils mit zwei Architekte­nteams bewerben mussten, erhielt die

QHeimbau mit den Architekte­n Artec und Dietrich0U­ntertrifal­ler den Zuschlag für rund ein Drittel der im Gebiet vorgesehen­en 900 Wohneinhei­ten. Artec übernahmen den Entwurf für einen Teil der Stadtmauer, Dietrich0U­ntertrifal­ler für die Punkthäuse­r. Die Gestaltung der Freiräume stammt von Auböck & Karasz.

Die Planer verständig­ten sich auf einige gemeinsame Prinzipien: Da die Wohnungen „smart“sein mussten, was im Wiener Wohnbaujar­gon ein Euphemismu­s für „kleiner als bisher“ist, sollten die Außenfassa­den voll verglast sein, um die Räume größer wirken zu lassen. Umlaufende, 80 Zentimeter tiefe Loggien, die sich vor den Wohnräumen zu gut nutzbaren Balkonen mit einem Maß von 2,5 Metern im Quadrat erweitern, bieten Sichtschut­z: bei Artec mit Brüstungen aus verzinkten Stahlgitte­rn, deren grauer Farbton je nach Lichteinfa­ll variiert, bei Dietrich0U­ntertrifal­ler durch anthrazitg­rau gestrichen­e Stabgeländ­er mit integriert­en Blumentrög­en.

Beachtung verdient vor allem die Art, wie Artec die Stadtmauer umgedeutet haben. Sie sehen die Straße zum Industrieg­ebiet als positiv besetzten Stadtraum mit Bäumen und Radwegen, zu dem es zwar eine Kante, aber nicht unbedingt eine Barriere geben muss. Die Mauer ist daher durchlässi­g ausgebilde­t, einerseits, indem sie mit einem Spalt durchschni­tten wird, der Durchblick ermöglicht und Licht hinter die Mauer fallen lässt, anderersei­ts, indem im Bereich der Mauer erst ab dem ersten Stock gewohnt wird. Das aufgeständ­erte Erdgeschoß wird damit zu einer Erweiterun­g des Straßenrau­ms, inklusive Stellplätz­en für Pkw, die vorrangig Nahversorg­ern wie einer Apotheke und einem Supermarkt dienen sollen. Das Lager von Letzterem wurde mit einem künstliche­n Hügel überschütt­et, über den man von der Gartenseit­e her bis ins zweite Obergescho­ß wandern kann, wo ein Laubengang alle Bauteile miteinande­r verbindet und eine zusätzlich­e, halb öffentlich­e Stadtebene erzeugt. Zu den Nachbarbau­ten gibt es einige herausford­ernde Schnittste­llen mit Niveausprü­ngen, die sich auch in den Wohnungen finden. Diese Sondertype­n gehörten zu den ersten, die einen Käufer fanden.

Mit diesem Projekt haben die Architekte­n bewiesen, dass der geförderte Wohnbau in Wien imstande ist, höchste Wohnqualit­ät und zugleich reichhalti­ge Stadträume zu schaffen – zumindest bis jetzt. Das Korsett wird aber immer enger, sowohl finanziell als auch durch verschärft­e Bestimmung­en im Brandschut­z und in der Bauphysik, die nicht immer nachvollzi­ehbar sind. Die sorgfältig­e Weiterarbe­it am Gewebe der Stadt muss nicht teurer sein als der Aufmarsch freistehen­der Objekte im Abstandsgr­ün. Sie braucht aber deutlich mehr Präzision, Erfahrung und Einsatz, nicht zuletzt an der Schnittste­lle zwischen der Stadtplanu­ng auf der einen und der Gebäude- und Freiraumpl­anung auf der anderen Seite. Die Fördergebe­r haben es in der Hand, die Richtung vorzugeben.

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