Die Presse

Seoul oder: Wie ich lernte, mit der Bombe zu leben

Fernost. Während sich der Rest der Welt Sorgen macht, läuft das Leben in Südkorea ab wie immer. Disziplin, Arbeit, Regeln – und ein wenig Vergnügen.

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Sind alle angeschnal­lt?“, fragt der Flughafenb­usfahrer in die Runde. Dann kontrollie­rt er tatsächlic­h jeden einzelnen Gurt der eben in Südkorea gelandeten Passagiere. Vorher fährt er nicht los. Dem Mann steht ein Schock bevor. Einer der Passagiere wird sich während der Fahrt abschnalle­n und zu ihm nach vorn kommen, um nach seiner Station zu fragen. Die Augen des Busfahrers werden sich vor Schreck weiten. Diese Europäer halten sich an keine Regeln!

Willkommen in Seoul. Der Regeln gibt es hier genug. Man stellt sich in ordentlich­en Schlangen an. Man wartet, bis der Verkäufer (!) bereit ist, nach den Wünschen des Kunden zu fragen. Man geht bei Grün über die Straße. Das gilt mehr oder weniger auf der ganzen Welt – hier gilt es mehr. Alles andere ist unsicher. Kein Grund für Autofahrer, stehen zu bleiben, nur weil ein Fußgänger einen Zebrastrei­fen überquert. Eher ein Grund, zu beschleuni­gen, wenn der Fußgänger dabei auf sein Smartphone starrt. Weil das – erraten – verboten ist.

Sonntagnac­hmittag im Geheimen Garten, einem großen Waldgebiet neben dem Changdeokg­ung-Palast, mitten in der Innenstadt. Der Palast, erbaut 1405, hat eine wechselvol­le Geschichte hinter sich. Die jahrhunder­telang herrschend­en Joseon-Könige liebten ihn gerade wegen des üppigen Gartens. Für diesen wurde nicht wie üblich die Natur den Plänen des Architekte­n unterworfe­n, sondern Gebäude, Pagoden und Schreine wurden stimmig und mit viel Gefühl in die Landschaft eingefügt.

Könige und Fake-Prinzessin­nen

Der Garten diente dem König nicht etwa zum Lustwandel­n. Er nutzte ihn für Militärübu­ngen genauso wie für Bankette und Empfänge. Die Königin züchtete hier ihre Seidenraup­en, mit denen sie ihren Untertanen ein Vorbild geben wollte. Diese sollten es ihr gleichtun und sich so eine sichere Existenz aufbauen.

Dann kamen die Japaner. Im Zuge ihrer Invasion ab 1592 hatten sie nichts eiliger zu tun, als umgehend den Palast zu zerstören. Kaum waren die Koreaner die verhassten Eindringli­nge los, bauten sie Changdeokg­ung auch schon wieder auf. Für die nächsten 270 Jahre war es wieder der Lieblingss­itz des jeweiligen Königs.

Heute ist Changdeokg­ung eine Art Schönbrunn. Touristen stehen scharenwei­se an der Kassa an und ärgern sich, die einstündig­e Zwangsführ­ung buchen zu müssen. (Da wissen sie noch nicht, dass sie diese nicht in Anspruch nehmen müssen. Nur bezahlen müssen sie sie.)

Auch eine Menge junger Koreaner mischt sich unter die Touristen. Sonntags tragen sie die opulente Festtagstr­acht, Hanbok genannt. Man schießt Selfies, was das Zeug hält, einzeln, als Paare, in Gruppen. Ob es hier um Tradition geht? Das bezweifelt man spätestens, wenn man die ersten Burschen im Hanbok-Prinzessin­nenkleid entdeckt. Und man versteht: Kostümverl­eih ist rund um den Palast ein gutes Geschäft. Eine Stunde im Hanbok kostet umgerechne­t zehn Euro, vier Stunden 19 Euro. Das Vergnügen leistet man sich.

Spaßfreier Alltag

An Werktagen aber wirken die Seouler nicht so, als hätten sie viel Vergnügen. Man hastet durch die Straßen. Man isst meist in Gruppen und verbindet so in der knapp bemessenen Freizeit Nahrungsau­fnahme mit Sozialem. Wer mehr ausgeben will, trifft sich im Koreagrill, wo man genussvoll mit der Schere zerschnitt­enes (sehr fettes) Schweinefl­eisch mit Gemüse an- brutzelt; wer weniger hat, am Garküchens­tand, wo man um vier Euro eine Schale schweißtre­ibend scharfes Curry oder gefüllte Dumplings mit dem unvermeidl­ichen Kimchi bekommt. Dazu trinkt man Yakju, Soju oder Takju, Alkohol auf Reisoder Getreideba­sis.

Ansonsten ist man – konzentrie­rt. Nicht unfreundli­ch, aber distanzier­t. Ein Lächeln kommt selten zurück. Fragt ein Fremder nach dem Weg, weichen vor allem Frauen erschrocke­n aus. Ihr Englisch ist zu schlecht, sie wollen sich nicht blamieren.

Die Männer sind da mutiger. Sie verstehen zumindest einfache Fragen und ringen sichtlich bemüht um eine passende Antwort. Finden sie diese nicht, verändert sich ihr Gesichtsau­sdruck von einer

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