„Die Bilder vergisst man nicht“
Berlin. Vor einem Jahr hatte der islamistische Terror den Breitscheidplatz erreicht. Betonsperren und viel Sicherheitspersonal schützen heuer den Weihnachtsmarkt. Sonst ist alles wie immer. Oder?
Berlin. Der Glühwein dampft, Würste brutzeln auf dem Grill. Touristen schlendern untergehakt an mit Tannenzweigen geschmückten Ständen vorbei, während die Stimme aus dem Lautsprecher singend um etwas Schnee bittet: „Let it snow, let it snow, let it snow“. Alles wie immer auf dem Breitscheidplatz bei der Gedächtniskirche im Bezirk Charlottenburg, ein Jahr nach dem Anschlag?
Der Blick fällt auf graue Poller. Ein Mitarbeiter eines Sicherheitsdiensts steht in seiner grell orangen Weste vor einer dieser Betonsperren, ziemlich genau dort, wo der Tunesier Anis Amri, bewaffnet mit einem Lkw, zu morden begann. Noch etwas ist anders: „Da drüben vor der Kirche waren voriges Jahr auch Buden“, sagt eine Schaustellerin. Jetzt ist dort eine Baustelle.
Ein Blick durch einen Spalt im Zaun. Man liest einen der zwölf Namen der Todesopfer, die auf Platten an den Treppen eingraviert sind. Aus den Lautsprechern ist weiter ein unbeschwertes „Let it snow“zu hören, was den Moment noch etwas beklemmender macht.
Ein zweites Mahnmal
Am Dienstag, dem ersten Jahrestag des islamistischen Anschlags, wird die Gedenkstätte eröffnet. Dann wird auch ein schmaler „goldener Riss“enthüllt, der auf 14 Metern Länge den Boden durchzieht. Dann hat der Breitscheidplatz ein zweites Mahnmal neben dem „Hohlen Zahn“, wie die Berliner die Turmruine der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche nennen, die vom Zweiten Weltkrieg kündet.
Ein Jahr ist nicht viel Zeit, um einen Anschlag zu verarbeiten. Manche fangen erst damit an. Die Zahl der Verletzten, rund 70, verändert sich deshalb noch immer. Der Opferbeauftragte Roland Weber erzählt von einer Frau aus Bayern, die den Angriff erlebt hat. Sie dachte anfangs, sie schaffe es ohne professionelle Hilfe. Erst jetzt fing sie eine Therapie an. Eine OpferAngehörige schrieb der „Presse“, sie sei „sehr angeschlagen“zurzeit. „Ich muss Kräfte sammeln für die schweren Tage um den 19. Dezember“, den ersten Todestag ihres Vaters. Dann hat der Weihnachtsmarkt, an den heuer mit einer Ausnahme alle Schausteller von 2016 zurückgekehrt sind, für einen Tag Pause.
Auch die Müllers sind wieder da. Amri war mit dem gekaperten Lkw in ihren Stand gerast, der danach einer hölzernen Trümmerlandschaft glich. „Ick blend dat komplett aus“, sagt Mitarbeiter Oli (44) in breitem Berlinerisch. „Sonst kann ich hier kene Weihnachtsstimmung verbreiten“.
Am Ende der Gasse wendet Hardy Würste auf dem Grill. Der 36-Jährige sieht nicht aus wie jemand, den schnell was aus der Bahn wirft. Er fühle sich sicher, sagt er: „Alles gut.“Nur: „Die Bilder vergisst man nicht.“Es hat „geknallt“an jenem 19. Dezember, 20 Uhr 02. Dann fühlte er sich „wie im falschen Hollywoodfilm“. Er sah „das Chaos“: „Man kann das wirklich nicht richtig beschreiben.“
Merkel in der Kritik
An Hardys Stand hängt ein Zettel: „Keine Autogramme“. Eine Anspielung darauf, dass am Vortag Kanzlerin Angela Merkel hier war. Sie steht in der Kritik: Die Angehörigen der zwölf Toten beklagten in einem offenen Brief, dass ihnen die Kanzlerin nicht kondolierte, obwohl der Anschlag doch der Republik galt. Merkel wird das heute bei einem Treffen nachholen. Aus dem Brief tönt auch Wut über den Umgang der Behörden mit den Hinterbliebenen, die 72 Stunden auf die Identifizierung der Toten warten mussten, die in der Zwischenzeit nichts erfahren hatten (Informationssper- re) und auf eigene Faust Berlins Krankenhäuser abklapperten, während schon der erste Trauergottesdienst für die anonymen Opfer stattfand. Man liest aus dem Brief, wie sie sich im Stich gelassen fühlten, wie sie durch den Ämterdschungel irrten, um eine Entschädigung zu beantragen, deren Höhe (10.000 Euro für nahe Angehörige) selbst der Opferbeauftragte der Regierung für viel zu gering hält.
Mehrfach platzten Enthüllungen über Pannen im Fall Amri in die Trauer. Denn der Tunesier war kein „einsamer Wolf“aus dem Nichts: Die Behörden hatten den im Juli 2015 eingereisten Asylwerber bald auf dem Schirm. Er galt als Gefährder, der mit IS-Schergen in Libyen vernetzt war, wie sein angezapftes Handy verriet. Bleibt die quälende Frage, ob die Tat vermeidbar gewesen wäre: Amri, der ausreisepflichtige Asylwerber, war Juli 2016 kurz in Polizeigewahrsam. In Abschiebehaft aber kam er nicht.
Kompetenzchaos
Berliner Ermittler wussten zudem, dass er gewerbsmäßig mit Drogen dealte (auch wenn die Akten dazu nach dem Anschlag manipuliert wurden). Hätte man den 24-Jährigen nicht nach dem Al-CaponePrinzip aus dem Verkehr ziehen können? Zumindest für einige Monate? Es gab eine „reelle Chance“, ihn zu verhaften, meint Sonderermittler Bruno Jost. Doch es ging „so ziemlich alles daneben“.
Der Fall Amri legte ein Kompetenzchaos zwischen rund 50 involvierten Behörden offen, dazu eine große Personalnot. Die Ermittler unterschätzten Amris Radikalität, weil er das Leben eines Kleinkriminellen führte. Er wurde nur werktags observiert, nie nachts, und bald gar nicht mehr. Am Steuer des Lkw tauchte er wieder auf.
Ein Jahr danach erklären die meisten befragten Passanten, sie hätten kein mulmiges Gefühl mehr. Man lasse sich nicht von Terroristen vorschreiben, wie man Weihnachten feiere, sagt einer mit Berliner Trotz. Gabi (62) steht an einem Stand in der Wintersonne. Sie kommt nur noch untertags. „Es ist schade, aber ich traue mich abends nicht mehr auf den Markt“, sagt sie. Es bleibt eben doch eine Narbe. Und ein goldener Riss.