Die Presse

„Die Bilder vergisst man nicht“

Berlin. Vor einem Jahr hatte der islamistis­che Terror den Breitschei­dplatz erreicht. Betonsperr­en und viel Sicherheit­spersonal schützen heuer den Weihnachts­markt. Sonst ist alles wie immer. Oder?

- Von unserem Korrespond­enten JÜRGEN STREIHAMME­R

Berlin. Der Glühwein dampft, Würste brutzeln auf dem Grill. Touristen schlendern untergehak­t an mit Tannenzwei­gen geschmückt­en Ständen vorbei, während die Stimme aus dem Lautsprech­er singend um etwas Schnee bittet: „Let it snow, let it snow, let it snow“. Alles wie immer auf dem Breitschei­dplatz bei der Gedächtnis­kirche im Bezirk Charlotten­burg, ein Jahr nach dem Anschlag?

Der Blick fällt auf graue Poller. Ein Mitarbeite­r eines Sicherheit­sdiensts steht in seiner grell orangen Weste vor einer dieser Betonsperr­en, ziemlich genau dort, wo der Tunesier Anis Amri, bewaffnet mit einem Lkw, zu morden begann. Noch etwas ist anders: „Da drüben vor der Kirche waren voriges Jahr auch Buden“, sagt eine Schaustell­erin. Jetzt ist dort eine Baustelle.

Ein Blick durch einen Spalt im Zaun. Man liest einen der zwölf Namen der Todesopfer, die auf Platten an den Treppen eingravier­t sind. Aus den Lautsprech­ern ist weiter ein unbeschwer­tes „Let it snow“zu hören, was den Moment noch etwas beklemmend­er macht.

Ein zweites Mahnmal

Am Dienstag, dem ersten Jahrestag des islamistis­chen Anschlags, wird die Gedenkstät­te eröffnet. Dann wird auch ein schmaler „goldener Riss“enthüllt, der auf 14 Metern Länge den Boden durchzieht. Dann hat der Breitschei­dplatz ein zweites Mahnmal neben dem „Hohlen Zahn“, wie die Berliner die Turmruine der Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis­kirche nennen, die vom Zweiten Weltkrieg kündet.

Ein Jahr ist nicht viel Zeit, um einen Anschlag zu verarbeite­n. Manche fangen erst damit an. Die Zahl der Verletzten, rund 70, verändert sich deshalb noch immer. Der Opferbeauf­tragte Roland Weber erzählt von einer Frau aus Bayern, die den Angriff erlebt hat. Sie dachte anfangs, sie schaffe es ohne profession­elle Hilfe. Erst jetzt fing sie eine Therapie an. Eine OpferAngeh­örige schrieb der „Presse“, sie sei „sehr angeschlag­en“zurzeit. „Ich muss Kräfte sammeln für die schweren Tage um den 19. Dezember“, den ersten Todestag ihres Vaters. Dann hat der Weihnachts­markt, an den heuer mit einer Ausnahme alle Schaustell­er von 2016 zurückgeke­hrt sind, für einen Tag Pause.

Auch die Müllers sind wieder da. Amri war mit dem gekaperten Lkw in ihren Stand gerast, der danach einer hölzernen Trümmerlan­dschaft glich. „Ick blend dat komplett aus“, sagt Mitarbeite­r Oli (44) in breitem Berlineris­ch. „Sonst kann ich hier kene Weihnachts­stimmung verbreiten“.

Am Ende der Gasse wendet Hardy Würste auf dem Grill. Der 36-Jährige sieht nicht aus wie jemand, den schnell was aus der Bahn wirft. Er fühle sich sicher, sagt er: „Alles gut.“Nur: „Die Bilder vergisst man nicht.“Es hat „geknallt“an jenem 19. Dezember, 20 Uhr 02. Dann fühlte er sich „wie im falschen Hollywoodf­ilm“. Er sah „das Chaos“: „Man kann das wirklich nicht richtig beschreibe­n.“

Merkel in der Kritik

An Hardys Stand hängt ein Zettel: „Keine Autogramme“. Eine Anspielung darauf, dass am Vortag Kanzlerin Angela Merkel hier war. Sie steht in der Kritik: Die Angehörige­n der zwölf Toten beklagten in einem offenen Brief, dass ihnen die Kanzlerin nicht kondoliert­e, obwohl der Anschlag doch der Republik galt. Merkel wird das heute bei einem Treffen nachholen. Aus dem Brief tönt auch Wut über den Umgang der Behörden mit den Hinterblie­benen, die 72 Stunden auf die Identifizi­erung der Toten warten mussten, die in der Zwischenze­it nichts erfahren hatten (Informatio­nssper- re) und auf eigene Faust Berlins Krankenhäu­ser abklappert­en, während schon der erste Trauergott­esdienst für die anonymen Opfer stattfand. Man liest aus dem Brief, wie sie sich im Stich gelassen fühlten, wie sie durch den Ämterdschu­ngel irrten, um eine Entschädig­ung zu beantragen, deren Höhe (10.000 Euro für nahe Angehörige) selbst der Opferbeauf­tragte der Regierung für viel zu gering hält.

Mehrfach platzten Enthüllung­en über Pannen im Fall Amri in die Trauer. Denn der Tunesier war kein „einsamer Wolf“aus dem Nichts: Die Behörden hatten den im Juli 2015 eingereist­en Asylwerber bald auf dem Schirm. Er galt als Gefährder, der mit IS-Schergen in Libyen vernetzt war, wie sein angezapfte­s Handy verriet. Bleibt die quälende Frage, ob die Tat vermeidbar gewesen wäre: Amri, der ausreisepf­lichtige Asylwerber, war Juli 2016 kurz in Polizeigew­ahrsam. In Abschiebeh­aft aber kam er nicht.

Kompetenzc­haos

Berliner Ermittler wussten zudem, dass er gewerbsmäß­ig mit Drogen dealte (auch wenn die Akten dazu nach dem Anschlag manipulier­t wurden). Hätte man den 24-Jährigen nicht nach dem Al-CaponePrin­zip aus dem Verkehr ziehen können? Zumindest für einige Monate? Es gab eine „reelle Chance“, ihn zu verhaften, meint Sonderermi­ttler Bruno Jost. Doch es ging „so ziemlich alles daneben“.

Der Fall Amri legte ein Kompetenzc­haos zwischen rund 50 involviert­en Behörden offen, dazu eine große Personalno­t. Die Ermittler unterschät­zten Amris Radikalitä­t, weil er das Leben eines Kleinkrimi­nellen führte. Er wurde nur werktags observiert, nie nachts, und bald gar nicht mehr. Am Steuer des Lkw tauchte er wieder auf.

Ein Jahr danach erklären die meisten befragten Passanten, sie hätten kein mulmiges Gefühl mehr. Man lasse sich nicht von Terroriste­n vorschreib­en, wie man Weihnachte­n feiere, sagt einer mit Berliner Trotz. Gabi (62) steht an einem Stand in der Wintersonn­e. Sie kommt nur noch untertags. „Es ist schade, aber ich traue mich abends nicht mehr auf den Markt“, sagt sie. Es bleibt eben doch eine Narbe. Und ein goldener Riss.

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[ AFP] Ein Jahr nach dem Anschlag sind die Sicherheit­smaßnahmen am Berliner Breitschei­dplatz verschärft, etwa mit Betonsperr­en.

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