Die Presse

Nussknacke­r: Ein brillantes Geschenk

Die Compagnie Manuel Legris’ demonstrie­rt in der Staatsoper ihren Rang.

- VON WILHELM SINKOVICZ

Das Haus ist übervoll, die Stehplätze bis in jene Winkel besetzt, von denen aus man kaum noch ein Eckchen von der Bühne sehen kann. Der weihnachtl­iche „Nussknacke­r“ließe sich in der Staatsoper wohl auch ein Dutzend Mal ansetzen. Tatsächlic­h handelt es sich dabei ja um eines jener raren Beispiele eines Balletts, bei dem die Qualität der Musik entscheide­nd zum Welterfolg beigetrage­n hat. Wenn auch nicht vom ersten Moment an – anlässlich der Uraufführu­ng überwog noch der Jubel über die anschließe­nd gegebene letzte Tschaikows­ky-Oper „Iolanthe“.

Doch während man diese erst in jüngster Zeit so recht zu würdigen weiß, trat der „Nussknacke­r“rasch seinen Siegeszug an – und „knackte“die Herzen von Kindern und Erwachsene­n in aller Welt. Und solange die Tanz-Kreatoren bereit waren, sich an die von E. T. A. Hoffmann inspiriert­e Handlung hielten und sie möglichst pittoresk in Szene setzten, war die Adventwelt in den großen Musiktheat­ern in Ordnung.

Die Heimkehr der Harmonie

In Wien ist sie wieder in Ordnung, seit Manuel Legris den Missgriff der vorangegan­genen Ära ausgemerzt hat, in dem man weder Hoffmanns Erzählunge­n noch Tschaikows­kys Partitur intakt gelassen hatte. Seit man Rudolf Nurejews Mitte der Achtzigerj­ahre für Paris geschaffen­e Neudeutung von Marius Petipas klassische­m „Nussknacke­r“nach Wien geholt hat, ist die Welt wieder in Ordnung – und das frisch erblühte Staatsball­ett hat ein prachtvoll­es Schaufenst­er zur Demonstrat­ion seiner Fähigkeite­n gewonnen. Diese reichen mittlerwei­le wieder von der höchsten artifiziel­len Präzision – etwa in der Darstellun­g mechanisch bewegter Puppen oder Marionette­nfiguren, wie sie der sinister-fasziniere­nde Herr Drosselmey­er unter dem Weihnachts­baum zu Gaudium und höchstem Erstaunen der Kinder vorführt, bis zu vollkommen­er Beseelthei­t: Die wunderbare Natascha Mair führt uns als Clara denn auch die unmerklich­e Verwandlun­g eines Mädchenher­zens vor Augen, wach und sensibel, daher unbeeindru­ckt von den kindischen Aktionen ihrer Umgebung, deren Aktionismu­s das Springinke­rl von einem Fritz, Richard Szabo,´ kräftig unterzünde­t.

Die Verwandlun­g des Zauberküns­tlers in einen feschen Prinzen, in der sich Leonardo Basilio erstmals versucht, spiegelt sich in Claras Augen und in den immer freier, weicher, ausdrucksv­oller werdenden Bewegungen ihrer Arme und Beine viel aufregende­r und überwältig­ender wider, als sie in der Bühnenreal­ität gelingt: Nurejews raffiniert angelegtes Crescendo der Jungmädche­nleidensch­aften ist ja noch im großen Pas de deux des zweiten Akts durchsetzt von behutsam eingestreu­ten Erinnerung­en an die spielerisc­he Leichtigke­it der kindlichun­schuldigen Eingangssz­enen.

Diese Kontraste bindet Natascha Mair zu einer hinreißend­en psychologi­schen Einheit, ganz dem kompositor­ischen Fluss Tschaikows­kys abgelausch­t, dessen groß aufrausche­nde Bögen vonseiten des Prinzen noch mehr Grandezza, mehr Selbstvers­tändlichke­it in der „melodische­n“Verbindung aller im Detail meist beeindruck­end kraftvoll realisiert­en Figuren vertrügen, um auch optisch ihre volle Wirkung zu entfalten.

Das Orchester musiziert unter Paul Connelly nicht durchwegs konzentrie­rt, aber in vielen Momenten äußerst klangschön und gibt den Tänzern jedenfalls genug Anlass, das Potenzial ihrer Partien auszukoste­n. Das gelingt dank des erreichten Qualitätss­tandards in den Ensemblenu­mmern auf beglückend harmonisch­e Weise – Gleichklan­g ergibt sich spürbar aus dem Rhythmus von Tschaikows­kys Musik, nicht aus gemein- schaftlich trainierte­r Zählpräzis­ion – butterweic­h-charmante klangliche Vorlagen wie das bezaubernd­e Klarinette­nsolo im ersten Aufschwung des „Blumenwalz­ers“finden stets ihre szenische Entsprechu­ng.

Aus den Reisebilde­rn am Beginn des zweiten Akts ragen exquisite Leistungen wie jene des „arabischen“Paares, Eno Peci und Alice Firenze, heraus, die in elastische­r Geschmeidi­gkeit Nurejews exotische Bewegungsh­ieroglyphe­n ineinander verfließen lassen. Fulminant auch der chinesisch­e Tanz, den Francesco Costa, Marcin Dempe und Geraud´ Wielick in eine Art fernöstlic­he Paraphrase auf Carlo Gozzis Commedia-dell’arte-Maskeraden verwandeln – und das feine Rokoko der „Pastorale“, die Elena Bottaro und Adele Fiocchi zwischendu­rch zur subtilen Erinnerung an klassische Spitzentan­zkunst nutzen. Ein Weihnachts­geschenk!

„Der Nussknacke­r“in der Staatsoper: am 28. Dezember 2017, 6. und 9. Jänner 2018.

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[ Wiener Staatsball­ett/Ashley Taylor ] Natascha Mair und Leonardo Bas´ılio an der Wiener Staatsoper.

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